Norbert Geske: Nikias und das Volk von Athen im Archidamischen Krieg (= Historia. Einzelschriften; Heft 186), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 224 S., ISBN 978-3-515-08566-3, EUR 36,00
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Das namentlich unter dem Einfluss der Biografie Plutarchs und der Darstellung des Thukydides lange Zeit von der wissenschaftlichen Literatur rezipierte positive Perikles-Bild hat in den quellenkritischen Darstellungen jüngster Zeit eine deutliche Wende zum Negativen erfahren. Es ist daher sicher nur eine Frage der Zeit, bis die Neubewertung weiteres attisches Führungspersonal des 5. Jahrhunderts erfasst. Der in der Zeit nach Perikles politisch lange im Schatten Kleons stehende athenische Stratege Nikias ist bisher vor allem unter dem Eindruck des nach ihm benannten, doch nicht wirklich anhaltenden Friedens von 421 zwischen Athen und Sparta und noch mehr unter dem Eindruck der katastrophalen athenischen Niederlage in Sizilien 413 sowie in Anlehnung an das Bild der entsprechenden Plutarch-Vita durchweg negativ gesehen worden. Nach vereinzelten Ansätzen, seine Leistungen positiver zu würdigen, nimmt sich Norbert Geske einer grundsätzlichen Neubewertung des Nikias an.
Dabei beschränkt sich Geske auf die Jahre bis zum Ende des Archidamischen Krieges durch den Nikias-Frieden. Als einem angemessenen Nikias-Bild abträglich führt er neben der Präponderanz des Perikles und der der Perikles-Darstellung Plutarchs als negatives Pendant gegenüberstehenden Nikias-Biografie die Beurteilung des Strategen unter dem Eindruck seiner Misserfolge 421 und besonders 413 an. Geske macht also für das abwertende Nikias-Bild eine Sichtweise verantwortlich, die alle seine Maßnahmen aus der Rückschau im Lichte der Folgen des gescheiterten Friedens von 421 und der Sizilien-Expedition von 415-413 betrachtet. Im Gegensatz dazu will er an die Maßnahmen des athenischen Strategen keine unstatthaften, weil nachträglich zu Stande gekommenen Kriterien anlegen, um den Eindruck zu vermeiden, das Persönlichkeitsbild des Nikias zu seinen Lasten zu vereinheitlichen. Er möchte ihm vielmehr dadurch gerecht werden, dass er seine Leistungen mit seiner Denk- und Arbeitsweise in Einklang bringt, ohne sie zudem an Perikles unterstellten politischen Grundsätzen oder dem Vorgehen Kleons zu messen.
Dreh- und Angelpunkt der Beurteilung des Nikias im Archidamischen Krieg ist dabei für Geske die Pylos-Affäre. Während sich bei Thukydides (IV 27,5) der Gegensatz zwischen Kleon und Nikias aus den Ansichten des draufgängerischen Politikers über die Grundsätze sorgsam vorbereitender Planungsarbeit dieses Feldherrn im Allgemeinen ergibt, macht Plutarch (Nikias 7,2) daraus eine Feindschaft zwischen Kleon und Nikias wegen der Befürwortung der spartanischen Friedensbemühungen durch den Strategen. Die Veränderung der Argumentation des Thukydides steht bei Plutarch im Dienst eines Nikias-Bildes, das "einen Antihelden, ein schlechtes, nicht nachahmenswertes Beispiel" (29) vorführt und ihm zu Unrecht "Feigheit, [...] Angst um die eigene Sicherheit, auch auf Kosten des Gemeinwohls" (30) unterstellt. Geske interpretiert die Thukydides- und Plutarch-Passagen durchaus einfühlsam: Im Stimmungsumschwung Kleons von der Unsicherheit in Anbetracht des auf ihn zukommenden Pylos-Kommandos zu der Gewissheit, dieser Aufgabe mühelos gerecht werden zu können, sieht er die Kompilation unterschiedlicher Auftritte Kleons in zwei Volksversammlungen zu einer einzigen Rede durch Thukydides. Zugleich sei im Verzicht auf das Pylos-Kommando durch Nikias keine Niederlegung eines Volksauftrags zu sehen, sondern angesichts des rüden Urteils Kleons über seine strategischen Grundsätze im Vorgriff auf einen unter normalen Umständen voraussichtlich zu Stande gekommenen Volksversammlungsbeschluss nur der Hinweis zu verstehen, der Politiker Kleon solle es doch selbst einmal versuchen, wenn er meine, einer solchen militärischen Aufgabe gerecht werden zu können.
Hinter dieser Handlungsweise sieht Geske zu Recht keinen prinzipiellen Dissens über Kriegs- oder Friedenspolitik zwischen Kleon und Nikias; vielmehr hätten der Politiker und der Stratege auf ihren jeweiligen Gebieten bislang keine grundsätzlichen politischen Unterschiede erkennen lassen. Nikias habe sich aber aufgrund seiner sorgfältig erarbeiteten militärischen Erfolge (Eroberung von Minoa 427, zeitlich begrenzte Machtdemonstration gegenüber Melos, vergleichbare Ziele mit der Tanagra-Expedition in Boiotien und der Verwüstung der Küste der Opuntischen Lokris 426), zumal im Vergleich mit Aktionen des Demosthenes und des Laches auf weiteren Kriegsschauplätzen, "als erfolgreichster Feldherr in dem Zeitraum vor der Pylosdebatte" (71) etabliert.
Geske stellt heraus, dass der solide Ruf, den sich Nikias erworben hatte, durch eine entsprechende Selbstdarstellung gefestigt wurde, wonach sorgsame Planungsarbeit, Erfahrung und Minimierung zufallsbedingter Gefahren den im Staatsinteresse tätigen Kriegsfachmann auszeichneten. Die Stilisierung als "fürsorgliche Vaterfigur" (76) wurde durch die tragende Rolle der Religion, wie sie unter anderem in der Übernahme der Delia wohl 426/25 zum Ausdruck kam, im Selbstverständnis des Nikias abgerundet. Geske ist sich dabei bewusst, dass die Zeugnisse für das Ansehen des Nikias beim Volk, das er in seinen militärischen Erfolgen ebenso wie in seiner Selbstdarstellung verankert sieht, eigentlich erst aus der Zeit stammen, die er nicht mehr behandelt.
Mit dem sorgfältig aufgebauten Ruf einer überlegenen Seriosität gelang es Nikias, den Athenern vorsichtig, doch eindeutig bei nur graduell, nicht prinzipiell unterschiedlicher Grundauffassung eine politische Alternative zum Stil Kleons aufzuzeigen. In genau diesem Unterschied zwischen dem emotional agierenden, doch militärisch dilettierenden Politiker und dem intellektuellen, militärisch erfahrenen Strategen sieht Geske den tieferen Grund für Kleons Abneigung Nikias gegenüber, der Thukydides (IV 27,5) im Zusammenhang mit der Pylos-Affäre Ausdruck verleiht. Diese Sichtweise entwickelt Geske in mehreren Schritten überzeugend anhand der Pylos vorausgehenden und folgenden Aktivitäten des Nikias sowie durch ihre Verzahnung mit seinen quellenkritischen Interpretationen zu den Nachrichten über die Kleon und Nikias berührende Stellung in der Pylos-Debatte.
Aus diesen Gründen kann Geske als Folge seines Kleon bloßstellenden Agierens in der Frage des Pylos-Kommandos auch keinen Ansehensverlust des Nikias feststellen, wohl aber einen Machtgewinn Kleons, den Nikias natürlich nicht beabsichtigt, der ihm aber auch nicht unmittelbar geschadet habe. Dies dokumentiert Geske unter anderem an den auf Pylos folgenden militärischen Unternehmungen des Nikias (Einfall in korinthisches Gebiet 425, Eroberung von Kythera 424); diese fügten sich mit der Übernahme der Taktik des Epiteichismos, die der im Vergleich zu Nikias weit waghalsigere Stratege Demosthenes eingeführt hatte, gut in die aggressiver werdende Kriegführung der Athener ein. Daraus schließt Geske auf "eine große Übereinstimmung über den weiteren Fortgang des Krieges" (126) mit dem Ziel des Nikias, "am Ende des Krieges einen für Athen vorteilhaften Frieden schließen zu können" (127). Kleon und Nikias zogen also bei allen Unterschieden letztlich doch an einem Strang, und Nikias war Vertreter, nicht Gegner des neuen Elans der Athener im Krieg.
Die Eröffnung des thrakischen Kriegsschauplatzes durch Sparta nach militärischen Erfolgen des Nikias für Athen, die Friedensverhandlungen aus einer Position der Stärke hätten möglich werden lassen sollen, doch Misserfolge anderer Strategen, zudem die Konfrontation der einseitig auf Durchsetzung ihrer militärischen Absichten fixierten Feldherren beider Kriegsparteien, Brasidas und Kleon, verlängerten den Weg zum Frieden. Doch kann Geske gute Gründe namhaft machen, die dafür sprechen, dass man nach wie vor von einer mehrheitlich fundierten Friedensbereitschaft der Athener ausgehen durfte. Diesem Wunsch hätten die auf Verbesserung der athenischen Verhandlungsposition gerichteten Aktionen des Nikias im Norden entsprochen, ihm hätte sich auch Kleon zum Schein gefügt. Nach Kleons und des Brasidas Tod rückte der Friedenswille beider Seiten wieder in den Vordergrund. Abermals erweist Geske an den von Thukydides (V 16,1) genannten persönlichen Motiven des Nikias für den Frieden - Sicherung der eigenen eutychia für die Zukunft - seine Souveränität bei der Interpretation mitgeteilter Einseitigkeiten zu Gunsten eines ganzheitlichen Charakterbildes des Strategen. Nikias habe den richtigen Moment für den Friedensschluss genutzt, "denn es wäre schwer gewesen, einen Zeitpunkt zu finden, an dem die beiden Parteien [...] wieder gleichzeitig ernsthaft zum Frieden bereit waren" (159). Für die auf dem Frieden lastenden Probleme dürfe im Nachhinein Nikias aber nicht verantwortlich gemacht werden.
Mithilfe einer argumentativ dichten Interpretation der Handlungsweise des Nikias und ihrer Grundlagen in den sechs Jahren, die dem Friedenschluss von 421, der die erste Phase des Peloponnesischen Krieges beendete, vorausgingen, befreit Geske das verbreitete Bild des athenischen Strategen von nachträglichen negativen Konnotationen, mit denen es aufgrund der Folgen des Nikias-Friedens und vor allem des Scheiterns der sizilischen Expedition der Athener 413 durch Rückprojizierung angereichert worden ist. So gewinnt er aus dem taktischen und strategischen Kalkül des Nikias im Rahmen der ihm bis 421 übertragenen militärischen Aufgaben das Bild eines verantwortungsbewussten, planungsorientierten und maßvollen Feldherrn und Politikers. In dieses Bild vermag er in luziden Interpretationen die einen anderen Eindruck vermittelnden oder verkürzt und einseitig argumentierenden erzählenden Quellen zu integrieren. Geske steuert auf diese Weise Grundlagen für ein anderes, neues Nikias-Bild bei.
Ulrich Lambrecht