Bernd Heidenreich / Ewald Grothe (Hgg.): Kultur und Politik - Die Grimms, Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 2003, 367 S., ISBN 978-3-7973-0852-8, EUR 19,90
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Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse einer Tagung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, auf der die Rolle der Familie Grimm in Kultur und Politik im 19. Jahrhundert erörtert wurde. Dabei beschränkten sich die Beiträge nicht nur auf die berühmten Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, sondern bezogen auch den "Malerbruder" Ludwig Emil und dessen Neffen, den Germanisten und Kunsthistoriker Herman, ein. Die ersten Aufsätze bewegen sich auf recht bekanntem Terrain. So geht es zunächst um Herkunft und Heimat der Brüder Grimm und dann um die Themenkomplexe, die man ohnehin mit den Brüdern verbindet: Ihre Sammlung und Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen, ihre Anstrengungen im Bereich der Germanistik sowie ihre Beiträge zur Rechtswissenschaft und Rechtsgeschichte.
Interessanter wird es für den Historiker, wenn die Rolle von Wissenschaft und Politik sowie der Status der Brüder im wissenschaftlichen Feld analysiert wird. So versucht Hans-Christof Kraus eine Art Ehrenrettung des Politikers Jacob Grimm, dessen politische Interessen schon von Zeitgenossen kontrovers beurteilt wurden. Kraus skizziert ihn als "homo politicus" und beschreibt zunächst seine frühen Berührungen mit der europäischen Politik. 1805 reiste Grimm mit seinem akademischen Lehrer Friedrich Carl von Savigny nach Paris. 1806 trat er als Beamter in das Kriegskollegium in Kassel ein. Dann avancierte er zum Hofbibliothekar Jérôme Bonapartes in Westfalen. Später versuchte Grimm dieses Engagement damit zu entschuldigen, dass er seine Familien unterstützen musste und bewertete die Jahre bis 1813 als eine Zeit in der "das eintönige grau der schmach über Deutschlands himmel hieng", woraufhin er sich, um der tristen Gegenwart zu entfliehen, in die Geschichte der deutschen Literatur und Sprache vergraben habe. Dem ist entgegenzuhalten, dass die vor Ort ansässigen Beamten den neuen Herren durchweg bereitwillig dienten und es in ihren Reihen kaum zu Widerstand kam. Aufschlussreicher wäre es gewesen, Grimms Eindrücke und Bewertungen während seiner Zeit als napoleonischer Beamter zu analysieren. 1815 befand er sich als hessischer Legationssekretär auf dem Wiener Kongress. Hier hoffte Jacob Grimm vergebens auf die Erneuerung des Alten Reiches. Von wichtigen historischen Ereignissen abgesehen (1814/15 und 1848/49) war er mehr politischer Beobachter, der sich in seinem Rahmen für die nationale Einheit engagierte. Sein Aufbegehren gegen den König von Hannover im Jahr 1837, als dieser die Verfassung abschaffte, und die folgende Amtsenthebung als Universitätsprofessor machten ihn und seine Göttinger Schicksalsgenossen zu politischen Ikonen. Diese Märtyrerrolle bescherte Jacob Grimm sein Mandat in der Paulskirchenversammlung 1848. Hier gehörte er dem äußerst rechten Rand der Liberalen an. Er war für einen starken Fürst und Landstände und gegen Parlamente. Über die Frage, wie man sein Engagement in Frankfurt zu bewerten hat, herrscht im vorliegenden Band Uneinigkeit. Grimm schloss sich keiner Fraktion an und Kraus weist auf seine spärlichen Diskussionsbeiträge hin. Katinka Netzer hingegen bewertet seine wenigen Reden einerseits unbelegt als programmatisch, andererseits beschreibt sie, dass Grimm vor allem eine symbolische Funktion in der Paulskirche zukam, was allein schon seine Platzierung andeutete. Sein Stuhl stand vor den Sitzreihen der Abgeordneten direkt vor dem Rednerpult (255). Aufschlussreich ist auf jeden Fall Grimms spätere Beschreibung der Revolution als Gewitter! Diese Wertung ist zeittypisch für konservative Wissenschaftler, die Revolutionen mit Unwettermetaphern umschrieben und als Behinderung der wesentlich wichtigeren Wissenschaft sahen. [1]
Der Beitrag von Ewald Grothe über die Brüder Grimm und die hessische Landespolitik weist in dieselbe Richtung. Der Autor stellt den zeittypischen sakral überhöhten Patriotismus heraus und zeigt, wie die Grimms Kultur und Vaterlandsideen miteinander verknüpften. Ihre Beziehungen zu Teilen des Herrscherhauses waren eng. Wilhelm etwa fungierte als Prinzenerzieher. Über ihre unfähigen Fürsten murrten die Brüder lediglich in privaten Elitenzirkeln hinter vorgehaltener Hand (192). Ihre "Opposition" entsprach dem begrenzten Protest des Bürgertums gegen unhaltbare Zustände, wohingegen sie die studentischen Unruhen in Göttingen 1831 scharf ablehnten. Die Achtung vor der monarchischen Autorität blieb ein höchster Wert. Wilhelm Beck weist folgerichtig nach, wie diese konservative Haltung dann die Freundschaft zu ihrem Göttinger Kollegen Christoph Dahlmann fast zerbrechen ließ. Am Fall des Dichters August Heinrich Hoffmann (von Fallersleben) schieden sich die Geister. Die Brüder Grimm konnten ihrem ehemaligen Schüler nicht die oppositionelle Haltung gegenüber ihrem Gönner, dem preußischen König, verzeihen. Dahlmann warf ihnen deshalb mangelnde Solidarität mit einem Opfer obrigkeitlicher Willkür vor.
Die letzten vier Beiträge sind den Verwandten gewidmet, wobei die Autoren deren Schaffen in erster Linie auf ihren Beitrag zur Forschung über die berühmten Brüder hin abklopfen. Verwunderlich ist dies kaum, handelt es sich doch bei Ludwig Emil Grimm um einen zeittypischen Akademiemaler, von denen es viele im 19. Jahrhundert gab und das wissenschaftliche Œuvre Herman Grimms als Germanist und Kunsthistoriker dürfte heute vor allem diejenigen anziehen, die die Genese ihrer Disziplin erforschen. Karin Mayer-Pasinski stellt uns Ludwig Emil als Landschaftsmaler und Familienporträtisten vor, der sich aber nach eigenen Aussagen als Historienmaler sah. Dieser Befund dürfte kaum verwundern, galt doch diese Gattung in der Hierarchie, welche die Akademien im 19. Jahrhundert kanonisiert hatten, als die vornehmste. Geschätzt wurde der Malerbruder für seine zahlreichen Porträts der Familien Grimm, Brentano, Armin und Savigny.
Der Sohn Wilhelm Grimms, Herman, übernahm die Rolle des familiären Gralshüters. Nach dem Jurastudium versuchte er sich erfolglos als Schriftsteller. Schließlich gehörte er als Autodiktat zu denjenigen, die das Fach Kunstgeschichte etablierten. 1873 auf einen neu eingerichteten Lehrstuhl in Berlin berufen, sah er seine Aufgabe als Kunst- und Literaturkritiker darin, großen Männern Denkmälern zu setzen. Schuf sein Onkel Ludwig Emil Memoiren, die interessante Einblicke in die Lebenswelt einer bürgerlichen Künstlerfamilie des 19. Jahrhunderts liefern, so tat sein Neffe alles dafür, um das Ansehen der Brüder auf höchstem Niveau zu halten. Als Nachlassverwalter steuerte er die Rezeption der Korrespondenz und griff interpretierend in die Überlieferung ein. Holger Ehrhardt kommt in seinem Beitrag über die Quellenvernichtungen, die stattfanden, zu dem Fazit, dass sie "kleinlichen Eitelkeiten geschuldet waren, weil man nicht über den Tellerrand der Selbstbezogenheit hinauszublicken vermochte" (317). Für Kulturhistoriker und denjenigen, der sich über das Funktionieren von familiären Netzwerken interessiert, bieten die Aufsätze viel Anregendes.
Anmerkung:
[1] Gabriele B. Clemens: Sanctus Amor Patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004.
Gabriele B. Clemens