Bernd Heidenreich / Sönke Neitzel (Hgg.): Das Deutsche Kaiserreich. 1890-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 368 S., div. s/w-Abb., Karikaturen, Grafiken, ISBN 978-3-506-77168-1, EUR 39,90
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Das Deutsche Kaiserreich ist zwar nicht mehr der Zankapfel, der es zwischen Fischer-Kontroverse und Sonderwegs-Debatte war, doch das Interesse der historischen Forschung an diesem Gegenstand besteht weiterhin ungebrochen fort. Egal ob Globalgeschichte, Kulturgeschichte der Politik oder postkoloniale Geschichte - das 19. Jahrhundert erscheint auch heute als das präferierte Laboratorium für die Erprobung neuer Ansätze, Theorien und Methoden. Deshalb ist auch unser Bild des Kaiserreichs beständig Wandlungen unterworfen. Sowohl das Ende der großen Debatten wie das Auftreten neuer Paradigmen weckt die Neigung zur Bilanz und so reißt auch der Strom der Gesamtdarstellungen nicht ab. Als solche versteht sich ein neuer, von Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel herausgegebener Sammelband. Er beruht auf einer 2008 von der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung organisierten Konferenz und kommt mit angenehmem Understatement daher. Denn die Herausgeber wollen ausdrücklich kein Neuland betreten, sondern "für ein breites Publikum ein Bild des Kaiserreiches [...] skizzieren, das in zentralen Bereichen neue Forschungsergebnisse und alte Gewissheiten zu einem prägnanten Bild verdichtet" (12).
Auf eher knappe konzeptionelle Vorüberlegungen der Herausgeber folgt ein Beitrag von Dieter Langewiesche über den historischen Ort des Deutschen Kaiserreiches, für den allein sich die Lektüre des Bandes lohnt. Langewiesche zeigt noch einmal anschaulich, wie sich die Bewertung des Kaiserreichs im Lauf der deutschen Geschichte veränderte, vom Endpunkt einer schon im Mittelalter angelegten Nationalstaatswerdung bis zum Ursprung eines Sonderwegs, der im Holocaust gipfelte. Langewiesche hingegen sieht das Kaiserreich im Kontext des Vorangegangenen und des Möglichen. Die Reichsgründung versteht er als "Geschichtsbruch", nicht als "Geschichtserfüllung" (28). Tatsächlich gelingt ihm auf diese Weise, was er von der Geschichtswissenschaft insgesamt einfordert: dem Gegenstand seine Offenheit zurückzugeben. An die Stelle einer ehernen Teleologie tritt hier ein Labyrinth von Möglichkeiten. "Der Blick auf das Unerwartete verfremdet das vertraute Bild, das dem Heute vorgaukelt, Ziel der Geschichte zu sein" (35). Langewiesche entlarvt den immer noch verbreiteten Präsentismus und bietet geeignete Alternativen. Das macht seinen Aufsatz empfehlenswert für jedes Propädeutikum.
Der folgende erste Teil des Bandes ist mit Wirtschaft, Innenpolitik und Gesellschaft überschrieben. Dass die Kultur im Titel nicht vorkommt, ist kein Zufall, denn die beiden ihr gewidmeten Aufsätze von Ernst Piper und Sabine Meister sind allenfalls ein Feigenblatt, auf das man zudem vielleicht besser verzichtet hätte. Zumal Piper nicht für seine Aufgabe zu beneiden ist, auf wenigen Seiten die wichtigsten Trends in Architektur, Malerei, Literatur und Theater abzuhandeln. Dabei schleichen sich einige Ungenauigkeiten ein. Seine Behauptung etwa, bis 1918 habe das höfische Theater dominiert, "erst nach dem Ende der Monarchien entstanden städtische und staatliche Bühnen" (89), ist zumindest irreführend. Erstens gab es städtische Bühnen auch im 19. Jahrhundert (wenn auch meist als Pachtbetrieb), zweitens gingen die Staatstheater 1918 aus den herrenlos gewordenen Hoftheatern hervor und drittens waren die zeitweise mehr als 30 kommerziellen Berliner Privattheater quantitativ und qualitativ bedeutender als das höfische Theater. Doch schon aus Platzgründen fällt die populäre Kultur weitgehend unter den Tisch. Michael Salewskis Beitrag über "Bewegte Frauen" im Kaiserreich behandelt zwar, anders als der Titel suggeriert, nicht nur die Frauenbewegung, bewegt sich aber nicht auf der Höhe des Forschungsstandes. Schon die Eingangsbemerkung, derzufolge "es vielleicht grundsätzlich unmöglich für Männer ist, Frauen einst wie jetzt zu verstehen" (110) irritiert. Ebenso die Behauptung, bislang sei nicht aufgefallen, dass sich die "Hervorbringungen von Literatur, bildender Kunst und Musik immer auch als Genderdiskurse lesen" (118) lassen. Für die Kolleginnen und Kollegen, die diese Felder bearbeiten, dürfte das eine Neuigkeit sein. Auch Historiker/innen wie Ute Frevert und Peter Gay haben schon vor Jahren die Kultur als Quelle für die Geschlechtergeschichte ernst genommen. Dagegen bieten die folgenden Beiträge durchweg hervorragende Überblicksdarstellungen von ausgewiesenen Kennern. Roger Chickering schreibt über Historikerkontroversen, Werner Plumpe über die Wirtschaft, Thomas Brechenmacher über jüdisches Leben, Horst Gründer über Kolonialismus und Stig Förster über Militarismus.
Der zweite Teil des Bandes, ebenfalls aus acht Beiträgen bestehend, ist den außenpolitischen Beziehungen gewidmet, wobei neben der eigentlichen Außenpolitik stets auch die Wahrnehmung des Deutschen Reiches im Ausland mitdiskutiert wird. Die Bandbreite der Perspektiven reicht über Frankreich (Gerd Krumeich), Österreich-Ungarn (Gerd Kronenbitter), Russland (Jan Kusber) bis hin zu Japan (Sven Saaler). Wünschenswert wäre vielleicht noch ein Beitrag über die USA gewesen, mit denen, wie immer wieder erwähnt wird, Deutschland häufig verglichen wurde. Großbritannien, der seit der Sonderwegs-Debatte klassischen Vergleichsfolie, wenden sich gleich zwei Beiträge zu. Während Magnus Brechtken die britische Außenpolitik stark durch die deutsche Flottenrüstung beeinflusst sieht, erklärt Andreas Rose die Aufrüstung primär innenpolitisch, insbesondere mit der Rivalität von Heer und Marine. Sönke Neitzel liest dies als Bestätigung seiner These, derzufolge der deutsche Flottenbau weniger als der britische Politikwechsel für die Entfremdung zwischen den beiden Staaten verantwortlich gewesen sei (19). Diese Sicht prägt den Band insgesamt. So spricht Bernd Heidenreich von einer "Auskreisung" des Deutschen Kaiserreiches aus dem Kreis der Weltmächte (9), Konrad Canis analog von einer "Ausgrenzung" (177), Jürgen Angelow gar von einer "britischen Einkreisungs- und Blockadepolitik" (192). Ähnlich, allerdings noch zugespitzter, hat bereits 1999 Niall Ferguson in The Pity of War argumentiert. Ob die Autoren nun partiell auf dessen, damals unter anderem von Klaus Hildebrand heftig kritisierte, revisionistische Sicht einschwenken, bleibt offen. Jedenfalls scheinen die Ursachen des Ersten Weltkrieges auch lange nach dem Ende der Fischer-Kontroverse immer noch Diskussionspotenzial zu bergen.
Die Außenpolitik einmal ausgenommen, vermisst man die in der Einleitung angekündigten neuen Forschungsergebnisse. Dass die sonst inzwischen ubiquitären Begriffe "transnational" und "global" kaum vorkommen, von postkolonialen Ansätzen einmal ganz zu schweigen, mag man vielleicht noch verschmerzen. Aber dass die neuen Erkenntnisse der kulturhistorisch informierten Politikgeschichte, wie die mediengeschichtlichen Arbeiten von Dominik Geppert, Frank Bösch und Martin Kohlrausch, die doch gerade für das Kaiserreich viel Neues zu Tage gefördert haben, nicht repräsentiert sind, macht dann doch stutzig. Im Vergleich etwa zu dem von Cornelius Torp und Sven Oliver Müller herausgegebenen Band Das Kaiserreich in der Kontroverse (in dem nun wiederum die Außenpolitik eine vergleichweise marginale Rolle einnimmt), kommt Das Deutsche Kaiserreich deutlich konservativer daher, dafür allerdings stringenter. Ein "prägnantes Bild" ergibt sich zwar trotzdem nicht, doch es fragt sich, ob dies überhaupt erstrebenswert wäre.
Tobias Becker