Christoph Nonn: Das Deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang (= C.H. Beck Wissen; Bd. 2870), München: C.H.Beck 2017, 128 S., 1 Kt. , ISBN 978-3-406-70802-2, EUR 8,95
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"Es gibt mehr als nur ein mögliches Bild des deutschen Kaiserreichs." Nonn will "lediglich" dasjenige präsentieren, das ihm "nach einigen Jahrzehnten Beschäftigung mit den Quellen als das plausibelste erscheint". (9) Geschichtslaien mag ein solcher Einstieg in einer Reihe, die "Wissen" kurzgefasst verspricht, verunsichern, doch wer sich auf Nonns Sehepunkte einlässt, erhält ein differenziertes Bild und pointierte Wertungen. Welche Schwerpunkte setzt er, wie wertet er?
Nonn konzentriert sich auf politische Geschichte; soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklungen werden auf politische Wirkungen befragt. Wichtig ist ihm, die Entwicklungsdynamik vom "Agrarstaat mit inselhafter Industrie" zu "einer der weltweit führenden Industrienationen mit nur wenigen zurückgebliebenen, landwirtschaftlich geprägten Gegenden" (14) herauszustellen. Als Indikatoren benennt er den Wandel der Wirtschaftsstruktur, Binnenwanderung, die "Transportrevolution" (16), die Ausweitung der Märkte, die bessere Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und "eine beispiellose Hebung des Lebensstandards" in den Städten (18). Um die Veränderungsdramatik zu verdeutlichen, scheut er sich nicht vor Dramatisierung. Das Deutsche Reich in seiner Gründungszeit lasse sich mit "einem Entwicklungsland in Schwarzafrika heute" vergleichen (10). Dagegen ließe sich viel sagen.
Von den zahlreichen Konfliktlinien stellt Nonn vier in den Vordergrund: Stadt und Land, Klassen, Religion sowie "Nationalismus und Partikularismus" (26). Dass er "Landesidentität" nur als "Grundlage eines widerborstigen Partikularismus" (27) charakterisiert, verweist auf einen Schwachpunkt der Studie. Wer sich nicht mit der deutschen Föderativgeschichte auskennt, erhält keine Hilfe zu verstehen, was es bedeutet, dass sich im Kaiserreich der Übergang von der deutschen Vielstaatlichkeit in einen föderalen Bundesstaat mit preußischer Dominanz vollzog. Preußen und das Reich stehen ganz im Zentrum der Studie; immerhin erfährt man, dass "die Uhren südlich des Mains anders liefen als in Preußen." (86) Aber führten sie auf "Sonderwege" (108)? Was Föderalismus vom Partikularismus unterscheidet und wie er zur inneren Nationsbildung beitrug, erfährt man nicht. Nonn kennt nur einen Partikularismus, welcher der "nationalen Einheit" entgegengewirkt habe (111).
Zu den pointierten Wertungen gehört insbesondere die Relativierung der Rolle Bismarcks. Dies gilt zunächst für die Gründungsphase. Nonn betont die Bedeutung der Nationalbewegung, doch die entscheidenden Anstöße, die staatliche Einigung militärisch zu erzwingen, seien von außen gekommen: erst von Dänemark, dann von Frankreich. Bismarck wird zum "Reichsgründer" (29) in Gänsefüßchen zurückgestutzt, und die Gründung habe nicht den europäischen Mächten abgetrotzt werden müssen. In der Innenpolitik wird Bismarck vielfach immer noch als Schöpfer der Sozialversicherungsgesetzgebung bezeichnet. Hier korrigiert Nonn gemäß dem Forschungsstand entschieden. Die Phase bis 1879 behandelt er unter der Überschrift "Reichsgründung und liberale Ära", der er die "konservative Ära" bis Bismarcks Entlassung folgen lässt. Sie "Bismarck-Zeit" zu nennen, wäre in Nonns Perspektive unangemessen, denn er arbeitet den dynamischen Wandel heraus, der mit dem inneren Ausbau des Nationalstaats verbunden war, während er Bismarcks Politik durchweg den "Interessen des Adels und der preußischen Monarchie" (58) verpflichtet sieht. So zeichnet er Bismarck als Verteidiger einer untergehenden Welt. Nach Bismarcks Entlassung wurde die Reichspolitik flexibler, doch das Hauptziel habe sich nicht geändert: "Verteidigung und Stabilisierung der zentralen Machtposition von Monarchie und Aristokratie" (59). Die Erosion der drei Säulen, auf denen die "Dominanz von Aristokratie und Monarchie" (80) beruhte - alleinige Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem preußischen König und deutschen Kaiser, preußisches Dreiklassenwahlrecht, Preußens Stellung im Bundesrat - war jedoch nicht aufzuhalten. Seit den Reichstagswahlen von 1912 war es nicht mehr zu übersehen. Dass in diesem "politischen Erdbeben" (87) die konservative Herrschaft nicht unterging, sondern eine "stabile Krise" (88) folgte, so dass weder die Parlamentarisierung noch die Demokratisierung bis zum Weltkrieg vorangeschritten seien, lastet Nonn vor allem den politischen Akteuren an. Sie hätten sich in "dem Schwebezustand zwischen monarchischem und parlamentarischem System, zwischen Herrschaft der alten aristokratischen Elite und Dominanz der neuen demokratischen Massenbewegungen häuslich eingerichtet" (92).
Um die Entwicklungen einzuordnen, blickt Nonn mehrfach über Deutschland hinaus. Am stärksten geschieht das im Weltkriegskapitel. Der Krieg sei "nicht unvermeidbar" (93) gewesen, doch als die "Eskalationsspirale" in Gang gekommen war, sei zum "Automatismus der Allianzen" ein "fataler Automatismus der militärischen Planungen" (95) hinzugekommen. Dies gelte für alle beteiligten Staaten. Doch letztlich sei es die deutsche Politik gewesen, die mit der Kriegserklärung an Frankreich und der Verletzung der belgischen Neutralität aus dem Balkankonflikt einen europäischen und einen Weltkrieg machte.
Nonn schließt mit einer Bilanz, die zurückblickt und zugleich abzuschätzen sucht, was das Erbe des Kaiserreichs für die Entwicklungschancen der Weimarer Republik bedeutet habe. Die Hinterlassenschaft pointiert er zu: "Säkularisierte demokratisierte industrielle Klassengesellschaft" (111). Der Rückgang religiöser Bindungen habe "zentrifugale Kräfte" (111) gemildert, "zentrale Ursachen für die politische Virulenz der Spannungen zwischen Stadt und Land" seien mit der Revolution und dem Ende des Kaiserreich verschwunden (113), der Klassengegensatz hingegen blieb, ohne jedoch die Integration von Arbeitern und Sozialdemokratie in Frage zu stellen. Am Ende des Kaiserreichs sei die Gesellschaft weniger patriarchalisch, weniger religiös und national homogener gewesen als zu Beginn. Mit Blick auf Radikalnationalismus, Antisemitismus, Militarismus, Rassismus und Vorstellungen vom Rassenkrieg überwiege der "Eindruck von Diskontinuität" (122). Als schwerste Erblast bestimmt er die "Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit" (122), in der sich die Parteien ebenso wie die Bürger im Laufe des Kaiserreichs eingerichtet hätten. "Wer nach kausalen Zusammenhängen zwischen der Entwicklung des Kaiserreichs und dem weiteren Verlauf der deutschen Geschichte sucht, wird sie vor allem hier finden." (123)
Mit diesem entschiedenen Urteil endet das schmale Buch. Wer es liest, erhält differenzierte Blicke auf die Geschichte des deutschen Kaiserreichs, verbunden mit abwägenden Erörterungen und pointierten Wertungen. Wer andere Deutungen und die Kontroversen um diese Deutungen kennenlernen will, muss anderes lesen. Hinweise bietet die kommentierende Literaturauswahl.
Dieter Langewiesche