Thomas H. Wagner: "Krieg oder Frieden. Unser Platz an der Sonne". Gustav Stresemann und die Außenpolitik des Kaiserreichs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 237 S., ISBN 978-3-506-75674-9, EUR 39,90
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Thomas Wagner hat eine Teilbiografie Stresemanns vorgelegt, die nicht dessen politisch bedeutsamstes Wirken als Politiker in der Weimarer Republik, sondern seine Anfänge im Kaiserreich, als nationalliberaler Politiker, Publizist und Syndikus zum Inhalt hat. Der Hauptaspekt liegt hierbei auf außenpolitischen Fragestellungen, auf die auch der Titel des Buches, der auf einen Stichwortzettel Stresemanns zurückgeht, anspielt. Allerdings finden auch andere Themen Erwähnung, wie etwa die Frage nach Stresemanns eventuellem Antisemitismus und seinem Verhältnis zum Militarismus.
Die Quellenlage ist ungewöhnlich gut, da Stresemann von seinen Briefen Durchschriften anfertigte und außerdem eine ungewöhnlich reichhaltige publizistische Tätigkeit entfaltete. Wagner konnte daher auf einen großen Fundus an Briefen, Artikeln und Rezensionen zurückgreifen, um eine sorgfältige Rekonstruktion der politischen Sichtweise seines Protagonisten vorzunehmen. Er geht hierbei chronologisch vor, wenn auch immer wieder thematisch organisierte Kapitel die Chronologie durchbrechen. Wagner versucht, sich auf zwei Wegen von der reichhaltigen Literatur zu Stresemann abzusetzen; einerseits durch minuziöse Quellenarbeit, andererseits durch die Formulierung von Thesen, in denen er die überwiegend positive Sicht auf den Verständigungspolitiker und Friedensnobelpreisträger Stresemann in Frage stellt.
Nun ist es bekannt, dass Stresemann zu Kaisers Zeiten nicht gerade ein zurückhaltender Politiker war. Auch Wagners Stresemann war ein überzeugter Imperialist, befürwortete Kolonialbesitz, auch formelle Herrschaft, und hielt diese für die wirtschaftliche Prosperität der stetig wachsenden deutschen Bevölkerung für unverzichtbar. Er war auch der Meinung, Deutschland müsse seine wirtschaftlichen Einflussgebiete, so den Orient, notfalls auch um den Preis des Krieges verteidigen, sollten sie angegriffen werden.
Stresemann war Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller, als solcher wirtschaftsnah, ein Gegner des "Bundes der Landwirte" und sah die Bedeutung der Weltwirtschaft als sehr hoch an. So sagte er am 15. März 1910: "Politik und Völkerpolitik ist heute in erster Linie Weltwirtschaftspolitik." (104). Wagner zeigt sich aber skeptisch und glaubt nicht, dass Stresemann die Rolle der Wirtschaft in der Außenpolitik höher ansiedelte als die der Machtpolitik. Stresemanns gleichzeitig geäußerte Ansicht, dass eine deutsch britische Wirtschaftsentente wichtiger als Rüstungsbegrenzungsabkommen seien, sei isoliert, und außerdem sei Stresemann unter dem Einfluss der Agadirkrise doch zu der Überzeugung gelangt, dass politische Macht grundsätzlich bedeutender als wirtschaftliche Macht sei.
Das Buch besticht durch seine Quellennähe, seine prägnante Kürze - es hat 200 Seiten - und auch dadurch, dass Wagner jedem seiner Kapitel eine knappe und präzise Zusammenfassung (Resümee) folgen lässt. Dadurch wird der Zugang und auch das wissenschaftliche Arbeiten mit diesem Buch sehr erleichtert und jeder wissenschaftlich arbeitende Historiker wird das, was er gerade braucht, hier vergleichsweise leicht finden. Die Kehrseite der Medaille ist der Stil des Buches. Ohnehin fragmentarisch in der Konzeption, denn letztlich wird hier nur ein Teil von Stresemanns Leben untersucht, ist es auch abgehackt in seiner Präsentation. Wagner folgt seinen Quellen wie der kartierende Seemann der Küste. Das Buch ist in einem etwas steifen, akademischen Stil geschrieben.
Als eine der Thesen des Buches lässt sich herausfiltern, dass Stresemann, nach Wagners Ansicht, ganz verantwortungslos die Kriegsgefahren der wilhelminischen Weltpolitik verkannt und den Weltkrieg zu Gunsten der deutschen Weltmachtstellung in Kauf genommen habe. Wagner ist gut informiert und kann diese Ansicht durch mehrere Quellenzitate untermauern, kann den Rezensenten trotzdem nicht restlos überzeugen, denn alle Zitate, die er bringt, lassen sich auch in den damals üblichen Diskurs von Abschreckungslogik, Kriegsangst und massiv auftretender, pokernder Machtpolitik einfügen. Wagner interpretiert Stresemanns Ansichten überwiegend im Sinne von Mommsens "Topos vom unvermeidlichen Krieg", obwohl seine eigenen Quellenzitate eine andere Deutung nahe legen, nämlich die einer schwankenden, einer erheblich mehr oszillierenden Betrachtungsweise, wonach Stresemann zwar Machtpolitik, Abschreckung und Imperialismus befürwortete, aber den Weltkrieg weder wollte noch propagierte. So neigt Wagner dazu, Stresemann die Hinnahme des kommenden Weltkrieges zu Gunsten machtpolitischer Ziele zu unterstellen, entsprechende Zitate hervorzuheben, aber die anders gearteten Äußerungen Stresemanns (z.B. auf 133: "Glauben Sie wirklich, dass es in Deutschland einen Menschen mit Verantwortungsgefühl gibt, der die Zukunft dieser großen Nation in einem Überfall auf England aufs Spiel setzen möchte?" 26.10.1912) eher zu relativieren.
Diese Deutung des kriegsfatalistischen Stresemanns wird in der Forschung nicht einhellig geteilt. So hoben Kolb und Berg [1] hervor, dass für Stresemann der Kampf um den Weltmarkt nicht Krieg um den Weltmarkt bedeutete - und werden dafür von Wagner kritisiert (128), der sich hier, wie auch an anderen Stellen, mit seinen sehr kritischen Bewertungen von der Mehrzahl der Stresemann-Literatur absetzt. Dies gipfelt in Wagners prononciertem Schlussurteil, es bleibe ein "Rest an Abscheu angesichts der frivolen Arroganz und Ignoranz, mit der Stresemann die Realitäten der Weltpolitik verkannte, die Kräfte des Reichs überschätzte und damit seine Existenz aufs Spiel setzte. Augenmaß und Weitblick fehlten ihm elementar." (200) Dies ist ein hartes Urteil. Es ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, da Wagner hier auf manche Äußerungen Stresemanns zu verweisen vermag, die seine Ansicht untermauern, dass der spätere Außenminister der Weimarer Republik ein gefährlich bedenkenloser Anhänger wilhelminischer Weltpolitik gewesen ist.
Ob sein Urteil aber letztlich überzeugt, ist eine zweite Frage, da auch das hier verwendete Quellenmaterial andere Deutungen zulässt. So schreibt Wagner selbst an anderer Stelle: "Gustav Stresemann blieb bis zum Kriegsausbruch 1914 im Kern seines Wesens ein "Normal-Nationalist", der zwar alle politischen Fragen zunächst nach ihrem nationalen Gehalt beurteilte, sich dabei aber nicht als überzeugter Antisemit, Rassist, 'Sozialistenfresser' oder Annexionist in Europa hervortat." (154) Diese Interpretation ist zwar nicht revolutionär, dürfte aber den Nagel auf den Kopf treffen. Weitere wichtige Fragen, über die Wandlung vom "Saulus zum Paulus", oder, vielleicht hätte man sagen sollen, die Kontinuitäten in Stresemanns politischer Weltsicht und Herangehensweise im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, werden in diesem Buch leider nur sehr kurz angedeutet, aber kaum thematisiert oder gar beantwortet.
Anmerkung:
[1] Eberhard Kolb: Gustav Stresemann, München 2003 (siehe dazu die Rezension von Wolfgang Elz in sehepunkte 4 (2004), Nr. 10: http://www.sehepunkte.de/2004/10/7148.html ) und Manfred Berg: Gustav Stresemann. Eine politische Karriere zwischen Reich und Republik, Göttingen 1992.
Holger Afflerbach