Anders V. Munch: Der stillose Stil - Adolf Loos. Aus dem Dänischen von Heinz Kulas, München: Wilhelm Fink 2005, 258 S., ISBN 978-3-7705-4033-4, EUR 39,90
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Kaum ein anderer Architekt der klassischen Moderne hat für mehr Gesprächsstoff gesorgt als Adolf Loos, der berühmt berüchtigte Verfasser von Ornament und Verbrechen und Erbauer des umstrittenen Hauses am Michaelerplatz. Für den dänischen Kunsthistoriker Anders V. Munch Anlass genug, sich nochmals auf breiter Grundlage dem Phänomen Loos zu nähern und den zahlreichen vorliegenden Interpretationen seines prononcierten Standpunktes eine weitere hinzuzufügen, die uns einen ganz anderen Loos zu präsentieren verspricht. Dies allerdings nicht auf der Grundlage neuen Materials. Im Gegenteil, die vorliegende Studie, 1999 als Dissertation am kunstgeschichtlichen Institut in Aarhus verfasst und nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend, beschränkt sich ausschließlich auf bereits Publiziertes. Ihre neue Perspektive sucht sie vielmehr zu gewinnen, indem sie eine intellektuelle Biografie des Architekten zeichnet, die auf breiter Basis die Wiener Kultur des Fin de siècle einbezieht. Vor diesem Hintergrund erscheint es Munch geradezu als fatal, hierbei vom Ornamentbegriff auszugehen, da er in der Vergangenheit zu zahlreichen Verkürzungen der architektonischen Auffassungen Loos' geführt habe. Stattdessen stellt er ausgerechnet jenen Begriff in das Zentrum seiner Untersuchung, gegen den Loos unter dem Eindruck historistischer Architektur in all seinen Schriften und Manifesten vehement vorgegangen zu sein schien. Den Stil.
Die Vorteile jenes begrifflichen Perspektivwechsels liegen für Munch auf der Hand. Denn durch die Einbettung Loos' in die zeitgenössische Stildebatte entstehe gleichsam ein neues Portrait des vermeintlich kompromisslos modern denkenden Architekten, der mit seinen apodiktischen Formulierungen die Vertreter von Historismus und Jugendstil gleichermaßen verprellte. Loos entpuppe sich nun als traditionsbewusst denkender Kulturkritiker, dessen Argumentation aus heutiger Sicht, da die ästhetische Sprache der modernen Architektur ihrerseits als ein temporärer Stil und nicht mehr als objektivierbares, zeitenthobenes Ideal zu betrachten sei, auf das Paradox eines "stillosen Stils" hinauslaufe. Soll heißen, Loos' Stilkritik generiert letztlich wiederum nur einen weiteren Stil, der sich von der Stilvielfalt des Historismus durch den weitest gehenden Verzicht auf Ornamente unterscheide. Erst auf dieser Grundlage, so die implizite Auffassung Munchs, sei die Architektur Loos' wirklich unvoreingenommen zu betrachten und könne der kunsthistorischen Forschung jenseits aller Polemik wieder einverleibt werden. Jene stilkritische Entzauberung der Moderne sei gleichsam die Voraussetzung dafür, dass man die zahlreichen Einflüsse, denen Loos in der Formulierung seiner Kulturkritik ausgesetzt war, überhaupt zu erkennen vermag: angefangen bei den geschichtsphilosophischen und evolutionstheoretischen Modellen des 19. Jahrhunderts bis hin zu Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks.
Munch beabsichtigt daher mehr als eine Loos-Monografie. Nicht weniger als ein intellektuelles Panorama des Fin de siècle, in dessen Fond sich die Position Loos' gleichsam naturwüchsig herauskristallisiert, soll vor den Augen des Lesers entstehen. Gleich zu Beginn des opulent ausgestatteten Bandes holt Munch daher weit aus, wenn er die Bedeutung der hegelianischen Universalgeschichte für die soeben erst entstandene Kunstgeschichte herausstreicht, um sich sodann Nietzsches kulturkritischer Überprüfung des historischen Wissens zu widmen, die ohne Frage einen wichtigen Einfluss auf das Denken Loos' ausgeübt haben dürfte. Insbesondere die Ansicht, dass historisches Wissen nur dann gerechtfertigt sei, wenn es für die eigene Gegenwart fruchtbar zu machen war und schließlich zur Reflexion über die historischen Bedingungen des eigenen Blicks auf die Geschichte führte. Erst auf der Grundlage jener spezifischen Aneignung der Tradition war für Nietzsche "Kultur als Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes" möglich.
Zu Recht betont Munch, dass Nietzsches Geschichtsvorstellung prägend war für Loos' rigorose Kritik an den Reformversuchen der Wiener Sezessionisten. Aus der Sicht des Architekten wurde hiermit die eine oberflächliche Architektur- und Kunstauffassung durch die andere abgelöst, ohne, dass es hierfür einen rationalen Grund gab, der zu einem tieferen Verständnis der zeitgenössischen kulturellen Mentalität führen würde, die sich für Loos auf der Grundlage eines evolutionären Entwicklungsmodells erklärte. Denn mit Beginn des 19. Jahrhunderts habe man die gleichsam universalgeschichtliche und zivilisatorische Entwicklung vom Ornamentalen zur reinen Form jäh unterbrochen und so erst die gegenwärtige babylonisch-stilistische Sprachverwirrung ermöglicht. Jene Zäsur werde gleichsam durch das Werk Schinkels markiert, dem als letzten Architekten eine kulturelle Synthese auf der Grundlage der Tradition gelungen sei, bevor das Epigonentum des Historismus jeden eigenständigen Formwillen aufgegeben habe. Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt Loos' prominentestes baukulturelles Vermächtnis, das Haus am Michaelerplatz, für Munch nicht nur eine Inkunabel der Moderne dar, sondern zugleich ein Versuch, im Sinne Nietzsches und in Anknüpfung an den Klassizismus des 18. Jahrhunderts, das historische Vermächtnis als Material der Kunst zu begreifen. Künstlichkeit und Primitivität der zeitgenössischen Stildebatte sollten so unmittelbar vor Augen geführt werden.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Loos selbst immer wieder betont hat, wie wichtig der genius loci für seinen Entwurf gewesen sei. Und tatsächlich vermögen die eigens für Munchs Studie fotografierten Ansichten zu zeigen, wie einfühlsam der Architekt auf die umgebene Bebauung zu antworten wusste und wie kurz die postmoderne Interpretation greift, die hierin lediglich ein rigoroses Manifest der Sprach- und Traditionslosigkeit in der modernen Architektur sehen will. Nicht umsonst wurden "Ornament und Verbrechen" seitdem zum Synonym für den anmaßenden Habitus moderner Demiurgenarchitekten, deren kalter Zweckrationalismus den späteren vulgärfunktionalistischen Entgleisungen gleichsam den Weg geebnet habe. Differenzierungen waren hier allzu häufig unerwünscht.
Aus dieser Perspektive betrachtet, haben Studien wie die vorliegende eine heilsame Wirkung. Denn Munch ist offensichtlich um eine ausgewogene und angemessene Darstellung des hochreflektierten Standpunktes Loos' bemüht, der sich im Übrigen von einigen späteren Überzeugungen der modernen Architektur deutlich distanzierte. Denn Architektur ließ sich für Loos nicht mit der funktionsgebundenen Ästhetik der Maschine vergleichen, die immer wieder neue Formen zu generieren vermag. Für den ästhetischen Rationalisten Loos gab es nichts vollständig Neues in der Architektur zu erfinden. Allein im Vorhandenen steckte das Potenzial für das Zukünftige, das als Zweckmäßigkeit ohne Zweck vor allem Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes, das heißt der aktuellen zivilisatorischen Stufe sein sollte. Nur in diesem Sinne lässt sich bei Loos von einer Idee des Ökonomischen sprechen, wie schon Fedor Roth in seiner 1993 veröffentlichten Dissertation über Loos konstatierte, die Munch aber, ebenso wenig wie Carl E. Schorskes zentrale Studie "Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture" (1980), nicht zitiert. Dies ist umso bedauerlicher, da derartige Beiträge bereits äußerst anschaulich das intellektuelle Milieu darstellen, vor dessen Hintergrund die kulturkritischen Schriften Loos' zu sehen sind.
Munch indessen vertraut auf die eigene Fähigkeit zur Synthese, was ihm aber nicht immer gelingt. Zuweilen stehen sich die verschiedenen Positionen etwas unvermittelt gegenüber und die Auseinandersetzung mit zentralen Problemen wie Sempers Bekleidungstheorie ist begrifflich äußerst unscharf. Darüber hinaus wird die Lektüre durch zahlreiche ungelenke Formulierungen erschwert, die wohl vor allem der nicht immer kenntnisreichen Übersetzung zu verdanken sind. Weitaus größere Kopfschmerzen mag dem kritischen Leser allerdings Munchs eklatant nachlässiger Umgang mit dem Stilbegriff bereiten. So etwa, wenn er gleich zu Beginn seiner Studie unterschiedslos von einem "modernen Stil" spricht und die Hoffnung formuliert, die Beschäftigung mit Loos könne dazu beitragen, dem "heutigen oberflächlichen Stilgerede" (15) einen tieferen Sinn einzuhauchen. Was immer auch Munch uns damit sagen will, die Frage des Stils gestaltet sich doch ein wenig schwieriger als er uns glauben zu machen sucht.
Carsten Ruhl