Christoph Braß: Zwangssterilisation und "Euthanasie" im Saarland 1935-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, 368 S., ISBN 978-3-506-71727-6, EUR 39,90
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Horst W. Heitzer: Zwangssterilisation in Passau. Die Erbgesundheitspolitik des Nationalsozialismus in Ostbayern (1933-1939) (= Passauer Historische Forschungen; Bd. 13), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, VIII + 432 S., ISBN 978-3-412-23605-2, EUR 49,90
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Im Unterschied zur Euthanasie-Aktion fand das NS-Sterilisationsprogramm in aller Öffentlichkeit statt. Basis der Zwangssterilisation als "erbminderwertig" Stigmatisierter war ein vom Kabinett Hitler verabschiedetes und öffentlich verkündetes Gesetz, begleitet wurde das Programm von einer breit angelegten publizistischen Offensive, die die allgemeine Akzeptanz der Maßnahme steigern sollte. Über das Ausmaß und die Art der Umsetzung allerdings ließ man die Öffentlichkeit weitgehend im Unklaren. Zwar wurde die Anzahl der im Reichsgebiet durchgeführten "Erbgesundheitsverfahren" für das Jahr 1934 noch offiziell bekannt gegeben, doch bereits ab 1935 hielt man die Zahl der Betroffenen streng geheim. Zudem wurde der Zwangscharakter der Maßnahme weitgehend verschleiert.
Auch nach 1945 ließ sich die Gesamtzahl der nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" Sterilisierten nur schätzen, da die internen amtlichen Statistiken zumeist nicht überliefert sind. In ihrer bis heute maßgeblichen Studie von 1986 rechnete Gisela Bock die Zahl der Opfer daher unter anderem aus dem erhaltenen Zahlenmaterial hoch, mit dem Ergebnis, dass von 1934 bis 1945 reichsweit etwa 360.000 Menschen zwangssterilisiert wurden, fast 1 % der Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter. Durchschnittlich 94 % aller Erbgesundheitsverfahren hätten am Ende zu einem Sterilisationsbeschluss geführt. [1] Bocks im Wesentlichen auf die reichsweite Entwicklung und deren "rassen-" beziehungsweise frauenpolitische Implikationen fokussierte Studie lenkte das Forschungsinteresse auf die Praxis vor Ort und führte so zu einer großen Vielzahl von Regional- und Lokaluntersuchungen, in denen das jeweilige Ausmaß der NS-Zwangssterilisation, ihre konkrete Durchführung sowie örtliche Spezifika mithilfe quantitativer Methoden am Beispiel einzelner Bezirke oder medizinischer Einrichtungen beleuchtet wurden. Dass jenes Forschungsinteresse noch immer anhält, zeigen die kürzlich erschienenen Untersuchungen zu Passau und zum Saarland.
Weitgehend in dem bei solchen Regionalstudien bekannten Rahmen bewegt sich die Monografie von Horst W. Heitzer, Professor für Didaktik der Geschichte in Passau, zur Durchführung des Sterilisationsgesetzes im Bezirk des dortigen "Erbgesundheitsgerichts", einem katholischen, stark ländlich geprägten, eher dünn besiedelten Gebiet, in dem es sechs zur Beantragung von Erbgesundheitsverfahren berechtigte Gesundheitsämter, aber keine dazu befugte Psychiatrische Anstalt gab. Zentrale Quelle von Heitzers Arbeit sind die gerichtlichen Einzelfallakten, die für den Zeitraum von 1934 bis 1939 "fast komplett erhalten" sind (9). Wohl in erster Linie deshalb schränkt der Autor seinen Untersuchungszeitraum auf die Vorkriegszeit ein, obwohl die ebenfalls erhaltenen gerichtlichen Registerbände Aussagen etwa über Anzahl und Ausgang der geführten Verfahren auch für die Zeit bis 1945 erlaubt hätten (10).
Auf der Basis einer Stichprobe aus 75 Einzelfallakten (= 10 %) wertet Heitzer jenen Bestand im Hinblick auf Verfahrensablauf und Sozialprofil der Opfer statistisch aus, wobei er sich an den zu Beginn der 1990er-Jahre von Daum/Deppe für Frankfurt und Rothmaler für Hamburg erhobenen Kriterien orientiert. [2] Seine Resultate entsprechen zumeist den auch für andere Gebiete publizierten Befunden. So wurde der weitaus größte Teil der Verfahren von Amtsärzten initiiert (103) und gut 94 % der Prozesse führte am Ende zu einem Sterilisationsurteil, bezieht man die Ergebnisse der Revisionsverfahren vor dem "Erbgesundheitsobergericht" mit ein (293, 316). Einige der Passauer Ergebnisse lassen sich aber auch als Folge regionaler Besonderheiten interpretieren, etwa wenn die große Mehrzahl der Betroffenen katholisch (131) oder im landwirtschaftlichen Bereich tätig ist (135) und sich unter den Opfern im untersuchten Bezirk kaum Anstaltsinsassen finden. Dass sich die von Heitzer erhobene zeitliche Verteilung der Verfahren (101) signifikant von der in allen anderen bislang untersuchten Gebieten unterscheidet, hätte dagegen einer Erklärung bedurft.
Die Stärke von Heitzers Arbeit liegt in der detaillierten Schilderung, wie die katholische Kirche in Passau auf das NS-Sterilisationsprogramm reagierte und wie sie die Umsetzung der Maßnahme in ihrer Diözese zu behindern suchte. Wie der Autor u. a. anhand von Materialien aus dem Bistumsarchiv darlegt, gingen die Kirchenvertreter hier nach dem Scheitern einer anfänglichen "Eingaben- und Abmilderungspolitik" des Episkopats zu einer "intensive[n] Aufklärungskleinarbeit" mit den Betroffenen über (224): Dabei gewährten sie ihnen nicht nur seelsorgerische Betreuung während des diskriminierenden Verfahrens, sondern halfen offenbar nicht selten auch bei der Formulierung von Beschwerden gegen das Gerichtsurteil (307-312). Wohl in erster Linie deshalb war die Einspruchsrate beim Erbgesundheitsgericht Passau ungewöhnlich hoch (306), auch wenn fast alle Revisionsanträge später vom Obergericht verworfen wurden (316). So zeigt sich der kirchliche Einfluss auf die Zwangssterilisation im katholischen Passau vor allem auf jener individuell-menschlichen Ebene, seine Auswirkungen auf Anzahl und Ausgang der Verfahren waren dagegen anscheinend gering.
Auch die Dissertation von Christoph Braß zum Saarland widmet sich einer durchweg katholischen Region. Nicht nur wegen der dabei geleisteten vergleichenden Betrachtung von Zwangssterilisation und Euthanasie-Aktion greift diese Arbeit deutlich über Heitzers Studie hinaus. Braß, der schon 1993 erste Ergebnisse seiner Forschungen publizierte [3], untersucht ein Gebiet, in dem die Zwangssterilisation aus politischen Gründen einen besonderen Verlauf nahm. Da das Land bis zur Saarabstimmung unter Völkerbundsmandat stand, trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" hier mit deutlicher Verspätung in Kraft, sodass das zuständige Erbgesundheitsgericht Saarbrücken erst im Oktober 1935 die Tätigkeit aufnahm. Außerdem wurde das grenznahe Gebiet während des Krieges zweimal evakuiert, was zu monatelangen Unterbrechungen in der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit führte (127 f.).
Obwohl nur knapp 400 gerichtliche Einzelfallakten aus seinem Untersuchungsgebiet überliefert sind, vermag Braß die Gesamtzahl sowie die zeitliche Verteilung der Erbgesundheitsverfahren unter anderem anhand erhaltener gerichtsinterner Aufstellungen "relativ exakt" zu bestimmen (83-84). Den Ausgang jener Verfahren dagegen konnte er auf Grund der Aktenlage lediglich für einzelne Jahre klären. Braß zufolge wurden beim Saarbrücker Gericht zwischen 1935 und 1944 knapp 3.000 Sterilisationsverfahren geführt, von denen - soweit sich ermitteln ließ - ca. 80 % in erster Instanz mit einem Sterilisationsbeschluss endeten. Ob dieser Befund allerdings, wie Braß meint, die Frage nahe legt, "ob nicht die von Gisela Bock ermittelten Zahlen einer leichten Korrektur nach unten bedürfen" (136), scheint angesichts der speziellen Rahmenbedingungen saarländischer Erbgesundheitsgerichtsbarkeit eher zweifelhaft. Eine der wesentlichen Besonderheiten von Braß' Untersuchung jedoch ist, dass er das Augenmerk auch auf die Handlungsspielräume der Beteiligten richtet. Waren die Protest- und Verweigerungsmöglichkeiten Betroffener in diesen Verfahren, wie der Autor treffend illustriert, ausgesprochen gering (156-169), so verfügten die mitwirkenden Ärzte über erhebliche Handlungsfreiheiten. Wie in anderen Regionen verweigerten sich auch im Saarland die frei praktizierenden Ärzte zumeist der Pflicht, die eigenen Patienten zur Zwangssterilisation zu melden (66-68). Und auch staatliche Amtsärzte nutzten die ihnen gegebenen Ermessensspielräume, wenn sie etwa bei der Antragstellung eine gewisse Passivität an den Tag legten (175). Auf solch individuelles Verhalten von Amtsärzten führt Braß daher den Umstand zurück, dass das Antragsaufkommen in den von ihm untersuchten Landkreisen sehr unterschiedlich war (88-89).
Lag die Zahl der Sterilisationsopfer im Saarland mit gut 0,5 % der Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter deutlich unter dem Reichsdurchschnitt (148), so waren die dortigen Psychiatriepatienten von der Euthanasie wesentlich stärker betroffen, als die in anderen Regionen Deutschlands. Da die beiden großen saarländischen Anstalten zu Kriegsbeginn geschlossen worden waren, hatte man die saarländischen Kranken in andere Regionen verlegt. Nach Braß überlebte vermutlich nicht einmal jeder vierte jener von Heimat und Angehörigen Getrennten das "Dritte Reich" (327-329), sodass die Auflösung ihrer Anstalten im Grunde einer "Vorbereitungsmaßnahme" für die Euthanasie-Aktion gleichkam (336). Wie Braß zudem herausarbeitet, verfügten Anstaltsärzte sogar bei der zentral gelenkten T4-Aktion über ein "relativ hohes Maß an Autonomie" (337). Denn bei den aus Tarnungsgründen praktizierten "Zwischenverlegungen" waren die Anstalten selbst für Durchführung der Krankentransporte verantwortlich, was den Ärzten die Gelegenheit gab, Patienten vor der Ermordung zu bewahren. Nur wenige machten in größerem Umfang von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Anmerkungen:
[1] Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, 230-238, 247.
[2] Monika Daum / Hans-Jürgen Deppe: Zwangssterilisation in Frankfurt am Main 1933-1945, Frankfurt/M. / New York 1991; Christiane Rothmaler: Sterilisationen nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933. Eine Untersuchung zur Tätigkeit des Erbgesundheitsgerichts und zur Durchführung des Gesetzes in Hamburg in der Zeit zwischen 1934 und 1944, Husum 1991.
[3] Christoph Braß: Rassismus nach Innen - Erbgesundheitspolitik und Zwangssterilisation (= Beiträge zur Regionalgeschichte; Bd. 14), St. Ingbert 1993.
Astrid Ley