Friedrich von Halem: Recht oder Gerechtigkeit? Rechtsmodelle in Ost und West von der Antike bis zur Moderne. Eine Aufsatzsammlung (= Schriften des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien; Bd. 6), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 269 S., ISBN 978-3-412-15803-3, EUR 24,90
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Mit der Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit wurde Friedrich von Halem (1933-2003) schon früh konfrontiert. Sein Vater Nikolaus von Halem wurde im Juni 1944 vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und vier Monate später hingerichtet. Er hatte nicht nur mit den Regimegegnern aus dem so genannten Solf-Kreis Umgang gepflegt, sondern vor allem mit dem ehemaligen Freikorpskämpfer und Nationalbolschewisten Beppo Römer die Beseitigung Hitlers durch ein Attentat geplant und war deshalb schon 1942 verhaftet worden. Nikolaus von Halem gehörte zu den wenigen Angehörigen des nationalkonservativ-bürgerlichen Widerstandes, die nicht erst jahrelanges Beobachten der verbrecherischen und katastrophalen Politik des NS-Regimes darüber belehrte, dass dieses ein grauenhaftes Übel war, dem mit allen Mitteln entgegengetreten werden musste. Schon 1933 gab der hervorragende Jurist sein Referendariat auf und ging in die Industrie, weil er nicht bereit war, einen Eid auf Hitler abzulegen. Seine Geringschätzung von Konventionen und seine weit gespannten geistigen Interessen bildeten sicherlich wichtige Voraussetzungen für diese Haltung. In dem im hier besprochenen Band auszugsweise abgedruckten Brief, den der zum Tode verurteilte Nikolaus von Halem im August 1944 an seine Mutter schrieb, wird etwas davon deutlich. Auch der Abschiedsbrief, den er am Tag vor seiner Gerichtsverhandlung an seinen Sohn Friedrich richtete, wird hier wiedergegeben - ein zu Herzen gehendes Dokument der Vaterliebe.
Friedrich von Halem wurde wie sein Vater ein unkonventioneller Jurist mit intellektuellen Leidenschaften, die auf die Überschreitung des abendländischen Horizontes gerichtet waren. Die Rechtsgeschichte der griechischen Antike, des byzantinischen Reiches und Russlands hatten es ihm besonders angetan. Aber von Halem erkundete die östliche Rechtswelt auch ganz praktisch: 1992 ließ er sich als Rechtsanwalt in Moskau nieder. "Als deutscher Rechtsanwalt in Moskau verbringe ich sicherlich ein Viertel meiner Zeit damit, meinen deutschen Mandanten zu erklären, daß viele Dinge hierzulande ganz anders gehandhabt werden als in Deutschland, und ein weiteres Viertel damit, meinen russischen Mandanten auseinanderzusetzen, daß in Deutschland oder überhaupt im Westen viele Dinge völlig anders gesehen werden als in Rußland." (213 f.) Diese Äußerung von Halems aus dem im Sammelband wiedergegebenen Vortrag "Recht und Rechtsanwendung in Rußland" charakterisiert seine Rolle: Er war ein Mittler zwischen Welten, die sich zwar durch den Wegfall des Eisernen Vorhangs sehr viel näher gekommen, aber in vielem doch nach wie vor sehr fremd sind. Und er übte diese Mittlerrolle nicht nur in seiner Anwaltspraxis aus, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, die in dem von Leonid Luks postum zum Gedächtnis des Freundes herausgegebenen und eingeleiteten Aufsatzband dokumentiert wird.
So vielfältig die Themen und Formen auch sind - sie reichen von der theoretisch-historischen Erörterung des Ost-West-Problems bis zum Praxisbericht aus dem Anwaltsbüro, von der antiken Rechtsbegrifflichkeit bis zur Ideologie der so genannten Eurasier im Russland des 20. Jahrhunderts -, so klar sind sie doch um eine Frage zentriert: Welche elementaren Begriffe und Vorstellungen liegen dem unterschiedlichen Rechtsverständnis in Ost und West zu Grunde und wo sind ihre historischen Wurzeln zu finden? Von Halem griff hier weit in die Geschichte zurück. Der Ost-West-Gegensatz, der in der konventionellen zeithistorischen Perspektive als Auseinandersetzung der westlichen Welt mit dem Kommunismus gesehen wird, wird hier bis auf die antiken Ursprünge zurückgeführt. Das heutige Selbstverständnis Russlands und die sicherlich nicht undurchdringliche, aber doch fühlbare kulturelle Grenze, die am Ostrand der EU und mitten durch die Ukraine verläuft, sind ohne eine solche historische Tiefenschärfe sicherlich nicht zu verstehen. Diese ermöglichte es von Halem auch, die römisch-rechtliche, liberal-individualistische Begriffswelt mit der auf Harmonie ausgerichteten östlichen ohne voreilige Parteinahme vergleichend zu konfrontieren. Andererseits kannte er Russland zu gut, um es romantisierend als Projektionsfläche zu missbrauchen oder um auf Romantisierungen des eigenen Andersseins von russischer Seite hereinzufallen. So stellt er in der Auseinandersetzung mit einem "eurasischen" Autor - den "Eurasiern" sind zwei der sieben Aufsätze gewidmet - ebenso nüchtern wie treffend fest: "Obwohl Šachmatov mehrfach betont, das Thema seiner Darstellung sei das Ideal des russischen Staates und die Ideenwelt seiner Angehörigen, nicht seine Wirklichkeit, stellte er doch - in den besten slawophilen Traditionen - der europäischen Wirklichkeit das russische Ideal gegenüber und zieht aus diesem Vergleich seine Schlüsse." (173)
So differenziert von Halem sein Denkmodell entwickelt hat, so pointiert hat er zugleich argumentiert, was kritische Fragen geradezu herausfordert, etwa folgende: Welche Einwirkung haben die sozialen Wandlungsprozesse auf die Rechtsbegriffe? Bewirkt denn die spätestens seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft eindeutig am Modell der westlichen Industriegesellschaften orientierte Modernisierung nicht auch hier Konvergenzen? War die liberal inspirierte Rechtsreform des 19. Jahrhunderts nur aufgesetzt und der Lebenswirklichkeit des Landes unangemessen? [1] Und waren all die Kritiker und Gegner der autokratischen und totalitären Herrschaftsformen, die in Russland so lange dominierten, von den Dekabristen über einen erheblichen Teil der Revolutionäre von 1917 bis hin zu den Dissidenten, letztlich Fremde im eigenen Land, weil sie zwar in russischer Zunge, aber mit fremden Begriffen sprachen? Solche Fragen sind, etwa angesichts des unlängst verabschiedeten russischen NGO-Gesetzes und des gegen Bürgerrechtsorganisationen geschürten Spionageverdachts, von hoher Aktualität. Man würde sie gerne mit Friedrich von Halem diskutieren. Der Rezensent, der ihm einmal zu einem Gespräch über seinen Vater Nikolaus von Halem begegnet ist, kann bezeugen, dass das nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine menschliche Bereicherung wäre, die der Tod indes unmöglich gemacht hat.
Anmerkung:
[1] Diesen Standpunkt vertritt Jörg Baberowski in seiner Dissertation: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich, Frankfurt a. M. 1996.
Jürgen Zarusky