Rezension über:

Sonja Windmüller: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem (= Europäische Ethnologie; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, 384 S., ISBN 978-3-8258-7517-6, EUR 29,90
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Rezension von:
Friedemann Schmoll
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Friedemann Schmoll: Rezension von: Sonja Windmüller: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/8215.html


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Sonja Windmüller: Die Kehrseite der Dinge

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Bereits vor fast zwei Jahrzehnten beobachtete Ludolf Kuchenbuch in seiner Stichwortgeschichte zum Abfall: "Abfall ist so umfassend gegenwärtig, dass er dabei ist, zur zentralen Kulturmetapher aufzusteigen." [1] Die seit geraumer Zeit zu registrierenden Aufmerksamkeiten für das scheinbar Wertlose verdichten sich langsam zu kulturwissenschaftlichen Theoretisierungsbemühungen. Zunächst interessierten sich vor allem die Künste für die Ausscheidungen der Zivilisation - das Übrige, die Reste, das Weggeworfene -, um es in das Gedächtnis der Kultur zurückzuholen. Mittlerweile sind auch die Papierberge mit Überlegungen zur Technik-, Bedeutungs- und Kulturgeschichte des Mülls mächtig angewachsen. Auch die Museums- und Gedächtnistheorien wurden durch die Beschäftigung mit dem Wertlosen inspiriert. Aus gutem Grund: Wenn Claude-Lévi-Strauss zum Essen notierte, dieses sei eben nicht nur gut zum Essen, sondern auch zum Denken, so gilt dasselbe allemal auch für den Abfall - er ist nicht nur gut zum Wegwerfen, sondern auch zum Denken, zur sinnhaften Ordnung der Welt. Kultur konstituiert sich eben nicht nur durch das, was gesammelt, bewahrt und in Museen nobilitiert wird, das Dauerhafte also, sondern genauso durch das Gegenteil - das Weggeworfene, den besitzlos vagierenden Unrat, den Müll, das Vergängliche.

Auch in der Arbeit von Sonja Windmüller, mit der die Autorin am Marburger Institut für Europäische Ethnologie promoviert wurde, geht es um die Erzeugung von Bedeutung durch die Vernichtung der Dinge. Allerdings stellt sie dieses umfassende Problem in eine strenge historische Perspektive und untersucht im engeren Sinn die Etablierung der Abfalltechniken in der westlichen Moderne, hinter denen die Kulturtechniken des Deponierens, Verbrennens, Verwertens, des Vernichtens und Reinigens sichtbar werden. Historisch behandelt die Arbeit die Zeit zwischen der Hochphase der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhunderts, der Etablierung der Konsumgesellschaft also, "wobei im Mittelpunkt des analytischen Interesses die materielle Kultur (als zentraler Gegenstand volkskundlicher Forschung) stehen will" (16).

Windmüller ordnet in ihrer materialreichen Studie den Gegenstand durch mehrfache Perspektivierungen. Im Großkapitel "Klärwerk" sichtet sie nicht nur die bisherigen Erkenntnisse der interdisziplinären Müllforschung, sondern entfaltet all jene Facetten, die den Abfall zu einem beredten kulturellen Indikator und Instrument gleichermaßen werden lassen: die soziale Dimension als Ordnungsbegriff, seine Historizität als Symptom moderner Industriegesellschaften, die globale Zirkulation der Dinge und ihre kulturspezifische Ausprägung, den geschlechtsspezifischen Umgang mit Müll, die psychischen Energien des Wegwerfens, die Moralisierung des Mülls und nicht zuletzt seine Doppelnatur als materielle und metaphorische Manifestation.

Mit solch differenziertem, theoretischem Instrumentarium geht die Autorin dann in zwei großen Kapiteln an die empirische Erkundung des Mülls und seiner Geschichte, wobei sie sich auf die Hausmüll und seine Entsorgung konzentriert. Sie analysiert die technischen Ensembles der modernen Abfalltechnik und ihre historische Genese vom Kehrichteimer über die Mülltonne bis zu den Müllverbrennungsanlagen des Kaiserreichs, die sich damals freilich ebenso wie Verfahren der Mülltrennung nicht durchzusetzen vermochten, weil beide viel teurer kamen als die Anlage simpler Abfalldeponien. Erhellend dabei sind nicht nur Windmüllers Erörterungen, sondern auch das reichhaltige Inventar der Illustrationen, die auf ihre Weise die Entstehung neuer Verhaltensmuster und Dispositionen anschaulich machen.

Das resümierende Kapitel über "Die Kehrseite der Dinge" macht noch einmal deutlich, dass es nicht - oder nicht nur - um die Dinge selbst geht, sondern um "abgelagerte kulturelle Prinzipien und Stimmungen, Wertevorstellungen, Bedürfnisse und Reaktionsmuster", "semantische wie körperlich-präsentische Potentiale des Abfalls" (325). Es ist die "strukturelle Ambivalenz des Abfalls", die ein reichhaltiges Repertoire an disparaten Wahrnehmungs- und Handlungsmustern zwischen Erhaltung und Vernichtung, bewahrender Kultivierung und Naturalisierung erzeugt. Windmüllers Studie ist nicht nur eine weitere Arbeit zur Geschichtlichkeit des Mülls. Sie verknüpft verdienstvoller Weise die Geschichte der Technik mit ihren gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen. Insofern bleibt es nicht bei einer "äußeren" Geschichte des Mülls und der technischen Raffinessen seiner Entsorgung; es geht auch um eine "innere" Geschichte der Affekte, der Wahrnehmung, der Ausbildung neuer Verhaltensformen.


Anmerkung:

[1] Ludolf Kuchenbuch: Abfall. Eine Stichwortgeschichte, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag (= Soziale Welt. Sonderband 6), Göttingen 1988, 155-170, hier 155.

Friedemann Schmoll