Peter Joachim Lapp: Georg Dertinger: Journalist - Aussenminister - Staatsfeind, Freiburg: Herder 2005, 331 S., 16 Abb., ISBN 978-3-451-23007-3, 15,00
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Georg Dertinger, Generalsekretär der Ost-CDU und erster Außenminister der DDR, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Da eine Verhaftung und ein politischer Prozess seiner Karriere ein Ende machten, wurde er im Osten Deutschlands totgeschwiegen; im Westen galt er vor allem auf Grund seiner Mittäterschaft beim Aufbau der SED-Diktatur als Unperson. Peter Joachim Lapp möchte ihm in seiner gründlich recherchierten Biografie Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dazu hat er nicht nur Archivalien der SED und Ost-CDU, des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) konsultiert, sondern auch Aufzeichnungen von Dertinger und seiner Frau sowie Briefe aus dem Privatarchiv von Gerald Götting herangezogen.
Dertinger, geboren 1902 als Berliner Kaufmannssohn, wollte Offizier werden. Als die Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde nach der militärischen Niederlage von 1918 geschlossen wurde, musste er sich neu orientieren. Schließlich arbeitete er als Journalist bei Zeitungen des rechtskonservativen Spektrums: So wurde er zeitweilig Redakteur beim Organ des Frontkämpferbundes "Der Stahlhelm" und übernahm Ende der Zwanzigerjahre die Berliner Redaktion einer Reihe größerer Tageszeitungen. 1930 stellte ihn die Pressekorrespondenz "Dienst nationaler Tageszeitungen" als verantwortlichen Schriftleiter ein. Dertinger stand zwar der DNVP nahe, wurde jedoch nie deren Mitglied. Auch nach 1933 blieb er dem Journalismus treu. Das Auswärtige Amt beauftragte ihn 1934 mit der Herausgabe des "Dienstes aus Deutschland", eines Nachrichtendienstes für die deutschsprachige Auslandspresse. Dies setzte eine gewisse Nähe zum Regime, aber keine Parteimitgliedschaft voraus, sodass Dertinger nicht in die NSDAP eintrat. Wenngleich er kein überzeugter Nationalsozialist war, hielt er es für erforderlich, noch 1944 mit Durchhalteartikeln seine Regimetreue unter Beweis zu stellen.
Dertinger, der das Kriegsende in Berlin überlebte, wurde unmittelbar nach Gründung der CDU von deren erstem Vorsitzenden Andreas Hermes in die Parteileitung berufen, um dort eine Presse- und Propaganda-Abteilung aufzubauen. In den ersten Monaten nach Kriegsende wurde er auch zur Mitarbeit beim sowjetischen Geheimdienst verpflichtet: Seine Durchhalteartikel hatten ihn erpressbar gemacht. Lapp kann damit nachweisen, was lange vermutet worden ist.
Nun machte Dertinger in der Ost-CDU Karriere, zu deren Generalsekretär er bereits am 1. Januar 1946 ernannt wurde. In dieser Position war er, was in der Biografie etwas zu kurz kommt, maßgeblich an der Gleichschaltung der Ost-CDU beteiligt - ein längerer Prozess, der nach der Absetzung des Parteivorsitzenden Jakob Kaiser durch die sowjetische Besatzungsmacht Ende 1947 richtig einsetzte. Zwar führt der Autor in diesem Zusammenhang auch die Geltungssucht seines "Helden" an. Gleichzeitig spekuliert Lapp, Dertinger habe vielleicht Schlimmeres verhüten wollen, und rechnet es ihm als Verdienst an, dass er damals vorhandene Gräben zuschütten und Ruhe in die Partei bringen wollte. Diese Einschätzung erscheint angesichts der eindeutigen Rolle Dertingers in den innerparteilichen Auseinandersetzungen um den Kurs der Union sowie angesichts zahlreicher "Säuberungen" auf den unterschiedlichen Ebenen der Partei wenig angebracht.
Nach Gründung der DDR erhielt Dertinger den prestigeträchtigen, in Anbetracht der Tatsache, dass die ostdeutsche Außenpolitik in Moskau formuliert wurde, aber letztlich unbedeutenden Posten des Außenministers. Hinzu kam, dass er im MfAA von "Aufpassern" umgeben war, unter ihnen Staatssekretär Anton Ackermann von der SED. Auf die Personalpolitik in seinem Ministerium hatte er so gut wie keinen Einfluss. Wenngleich Lapp all dies zutreffend darlegt, geht er davon aus, dass Dertinger bis 1951 das MfAA "einigermaßen 'im Griff'" hatte (137) - eine These, für die er keine überzeugenden Belege anführt.
Das Verdienst der Biografie ist es, herausgearbeitet zu haben, dass Dertinger eine eigene deutschlandpolitische Konzeption verfolgte. So strebte er die Wiederherstellung eines wiedervereinigten, neutralen Deutschland an, das die berechtigten Sicherheitsinteressen der Sowjetunion zu berücksichtigen hatte. Da er die Einheit mithilfe Moskaus wiedergewinnen wollte, zeigte er sich schon Mitte 1949 bereit, auf die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße zu verzichten. Doch ob dies für ihn, wie Lapp schreibt, "eine Herzenssache" gewesen sei (129), muss letztlich offen bleiben. Bei all dem hielt der ostdeutsche Außenminister Stalin für einen Staatsmann, der es mit der deutschen Einheit ernst meinte. Die Kontakte, die Dertinger wohl in Absprache mit der sowjetischen Besatzungsmacht mit westdeutschen Politikern pflegte, standen ebenfalls im Dienst einer solchen Wiedervereinigungspolitik.
Auch wenn Dertinger seine Anpassungsbereitschaft mehrfach bewiesen hatte, hielt er trotz des Wandels der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem Scheitern von Stalins Notenoffensive 1952 an seiner Konzeption fest. Mit seinen ständigen Forderungen nach Wiederherstellung der deutschen Einheit sei er "seinen Partnern bei den Sowjets mächtig auf die Nerven gegangen" (138). Darin sieht Lapp wohl zu Recht den Hauptgrund für Dertingers Verhaftung im Januar 1953 und seine Verurteilung zu 25 Jahren Zuchthaus in einem Geheimprozess vor dem Obersten Gericht der DDR im Juni 1954.
Die Vernehmungen Dertingers, der Prozess und die Haftzeit kommen ebenso zur Sprache wie das Vorgehen gegen dessen Familie. Der in der Haft zum Katholizismus konvertierte, gesundheitlich stark angegriffene Dertinger wurde 1964 entlassen. Bis zu seinem Lebensende 1968 arbeitete er bei dem katholischen St. Benno-Verlag in Leipzig.
Insgesamt handelt es sich um eine flüssig geschriebene Biografie, die wissenschaftlichen Ansprüchen durchaus genügt. Die Einfühlsamkeit des Autors geht zwar an manchen Stellen etwas weit, doch wird die Schwelle zur Apologetik letztlich nicht überschritten. Dertinger steht insgesamt für eine eigentümliche Mischung aus Anpassungsbereitschaft, Ehrgeiz und Charakterschwäche einerseits und deutschlandpolitischer Grundsatztreue andererseits. Insofern kann seine Biografie als beispielhaft für die Entwicklung des politisch engagierten Bürgertums im Deutschland des 20. Jahrhunderts gelten.
Hermann Wentker