Annette Haug: Die Stadt als Lebensraum. Eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien (= Internationale Archäologie; Bd. 85), Rahden/Westf.: Verlag Marie Leidorf 2003, 567 S., ISBN 978-3-89646-357-9, EUR 85,80
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Das Forum, ehemals Mittelpunkt des Gemeinwesens, bietet einen irritierenden Anblick. Angrenzende Tempel und städtische Verwaltungsbauten sind zerstört oder zerfallen wegen mangelnder Instandhaltung, zugleich erhebt sich direkt nebenan eine neu errichtete christliche Kultanlage mit Bischofssitz und Kathedrale. In dieser Form präsentierte sich nach heutigem Wissen das altehrwürdige Zentrum von Aosta an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert. Wie ein Spiegel dieser und ähnlicher Situationen scheint sich die zeitgenössische Gesetzgebung lesen zu lassen, die zahlreiche Novellen zur Baugesetzgebung einbringt und Restaurierungsgebote ausspricht.
Wie lebte es sich in einer solchen Stadt? Was machte ein städtisches Gemeinwesen in einer Zeit des politischen und sozialen Wandels aus? Gab es Akzentverschiebungen im Stadtgefüge? Welche Strukturmaßnahmen wurden von unterschiedlichen Machthabern ergriffen? Welche Veränderungen nahmen die Bewohner in ihrem Lebensraum wahr und worin lagen diese begründet?
Diesen Fragen widmet sich das Buch "Die Stadt als Lebensraum - eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien", das von Annette Haug im Jahr 2003 im Rahmen einer deutsch-französischen Promotion der Universitäten Heidelberg und Paris vorgelegt wurde. Die Autorin nähert sich dem Thema des Raums aus urbanistischer Perspektive und untersucht das Phänomen des Wandels der antiken Stadt unter Fokussierung einer Region, die in der Spätantike durch die Verlagerung der Regierungszentren erheblich aufgewertet wurde. Mediolanum / Mailand wurde Ende des 3. Jahrhunderts tetrarchische Residenz, später Reichshauptstadt Westroms, eine Funktion, die ab 402 das unweit gelegene Ravenna übernahm. Dort residierte ab der Wende zum 6. Jahrhundert schließlich auch der Ostgotenkönig Theoderich. Durch die Präsenz des Kaiser- bzw. Königshofs und der wichtigsten staatlichen Funktionsträger erlangte die Region in der Spätantike nicht nur eine gesteigerte politische, sondern auch ökonomische und kirchlich-religiöse Bedeutung.
Die Veröffentlichung von Annette Haug fügt sich in den seit einigen Jahren anhaltenden Trend des altertumswissenschaftlichen Interesses an der Erforschung der Spätantike, insbesondere an der Erforschung von Transformationsprozessen, die gerne mit Begriffen wie "Kontinuität und Wandel" oder "Tradition und Innovation" umschrieben werden und im Rahmen kulturhistorischer Forschung bevorzugt am Städtewesen festgemacht werden. [1]
Als Archäologin hat sich die Autorin zum Ziel gesetzt, auch diejenigen Transformationsprozesse zu erfassen, die im Rahmen urbanistischer Arbeiten bislang nur wenig Berücksichtigung fanden: statt auf großräumige Stadtplanungen oder Neubaumaßnahmen richtet sie ihren Blick auf kleinere Umstrukturierungen, ja sogar Nicht-Aktivitäten und Zerstörungen. Wie sich herausstellt und auf Grund der sorgfältigen Befund- und Quellenanalyse der Autorin gut nachvollziehbar ist, war es oftmals nicht das aktive Handeln, sondern dessen Versäumnis, das sich im Stadtbild niederschlug.
Da die Autorin ihre Abhandlung auch als "theoretisch-methodischen Beitrag zur urbanistischen Forschung im weiteren Sinn" (1) versteht, stellt sie recht ausführliche methodische Überlegungen voran, die im Rahmen einer Dissertation durchaus nicht selbstverständlich sind. So umreißt sie in "Theorie und Methode" (11-41) zunächst den Forschungsstand zu urbanistischen Theorien und Modellbildungen, vorrangig aus dem Bereich der Soziologie. [2]
Auf dieser Basis legt sie die Methodik ihrer Arbeit dar: "Städte werden als Lebens-Orte von Menschen begriffen, Räume also, die als Bühne für die Darstellung von Rollenkonfigurationen, damit aber auch für die Verwirklichung rollenspezifischer Lebensstile fungieren" (27). Ein besonderes Augenmerk lenkt die Autorin auf "Phänomene, die innerhalb einer strukturellen Analyse als Ausnahmen gelten", da diese "im historischen Rahmen zum Movens für eine nachhaltige Strukturveränderung werden [können]" (ebd.). Insbesondere mit dem letzten Punkt hat die Autorin einen ertragreichen Fokus für ihren Untersuchungsgegenstand, die Städte der Spätantike, gewählt.
Nach einem Überblick über den historischen Hintergrund - insbesondere des spätrömischen Verwaltungssystems, der Wirtschafts- sowie der institutionellen Kirchengeschichte (43-63) - präsentiert der erste Hauptabschnitt der Arbeit fünf Fallstudien zu norditalienischen Städten: Mediolanum / Mailand, Aquileia, Brixia / Brescia, Verona und Augusta Praetoria / Aosta (65-140). Die Auswahl folgt dem Anspruch, einen Querschnitt durch Städte zu bieten, die in der Siedlungshierarchie zu verschiedenen Zeiten einen unterschiedlichen Stellenwert einnahmen, Mediolanum und Aquileia als Hauptorte im 3. und 4. Jahrhundert, Brixia und Verona als Regierungszentren ostgotischer Zeit. Etwas beliebig erscheint die Auswahl von Augusta Praetoria als Referenz für eine weniger bedeutende Kleinstadt.
Die Städte werden auf funktionale und strukturelle Veränderungen in der Spätantike untersucht. In mehrere Phasen untergliedert, erfolgt eine systematische Analyse nach den funktionsräumlichen Kategorien "Infrastruktur", "öffentlicher Raum", "privater Raum" "Nekropolen" und "Produktionsstätten". Nach denselben funktionalen Kriterien werden die Befunde im umfangreichen Katalog sortiert sowie in den beigegebenen Stadtplänen kartiert, sodass sie für die Leser leicht auffindbar und nachprüfbar sind.
Zusätzlich zu den Plänen der fünf ausgewählten Städte bietet das Buch 37 bearbeitete Karten von Vergleichsstädten in der Region und zahlreiche Abbildungen signifikanter Einzelbefunde, die die Autorin dankenswerterweise alle maßstäblich bearbeitet hat. Auf den Karten wäre allerdings die Hinzufügung einer Legende hilfreich gewesen, da die Ähnlichkeit der Signaturen auch nach längerer Nutzung immer wieder zu Irritation führt.
Auf Grund der zu erwartenden Einordnungsschwierigkeiten einzelner Befunde in das vorgegebene Raster - z. B. von Residenzen, die Wohn- und Regierungsfunktionen in sich vereinen - verblüfft die strikte Trennung der Funktionsbereiche zunächst, allerdings gelingt es der Autorin durch konsequente Verweise plausibel, den methodischen Fallstrick einer solchen Untergliederung in private und öffentliche Räume zu umschiffen.
Kernstück des Buchs ist der Abschnitt "Urbane Räume im Wandel" (142-288), in dem einzelne Funktionsräume und ihre Transformation in der Spätantike verfolgt werden. Das Kapitel bietet einen Querschnitt durch die zuvor untersuchten Städte, zu Vergleichszwecken werden nun auch Befunde aus anderen norditalienischen Städten berücksichtigt. Aus den vielen interessanten Beobachtungen dieses Abschnitts sollen hier nur wenige beispielhaft herausgegriffen werden:
Im Bereich der städtischen Infrastruktur lässt sich der Verfall einzelner innerstädtischer Straßenabschnitte und Abwasserkanäle vermutlich darauf zurückführen, dass für ihre Instandhaltung die Anrainer zuständig, die anliegende Grundstücke jedoch verlassen waren. Für diese Fälle scheint keine Sonderregelung innerhalb der Gemeinwesen existiert zu haben.
Gegen die verbreitete Forschungsmeinung, die ersten christlichen Kultbauten seien in peripherer Lage innerhalb der Städte entstanden [3], setzt Haug die interessante These, die Kirchen zeigten vielmehr eine "deutliche Affinität zu den in der Stadt vorhandenen, 'vitalen' Zentren sowie eine gute Anbindung an die innerstädtischen und überregionalen Verkehrswege" (181). Am ehemals bedeutendsten urbanen Zentrum, dem Forum, war im 5. Jahrhundert in einigen oberitalienischen Städten die Kirche als einzige Institution überhaupt noch präsent.
Der Baugrund, auf dem innerstädtische Kirchen errichtet wurden, war zuvor meist mit Wohnbebauung belegt. Für den Untersuchungsraum lassen sich sowohl Nutzungen aufgelassener Stadtareale als auch Überbauungen von bestehenden Häusern nachweisen, eine Praxis, die darauf hindeutet, dass das Grundstück der Kirche wahrscheinlich von privaten Stiftern zur Verfügung gestellt wurde. Während außerhalb der Mauern Friedhofs- und Märtyrerkirchen entstanden, blieben die Kathedralen bis in ostgotische oder sogar langobardische Zeit die einzigen Kirchen auf innerstädtischem Gebiet. Ein bemerkenswertes Ergebnis der Untersuchung ist, dass neue christliche Kultbauten offensichtlich weitaus seltener als vorher angenommen das Gelände paganer Tempel okkupierten, sondern eher neben diesen erbaut wurden. Ursache von Tempelzerstörungen waren weniger einmalige antipagane Aktionen als vielmehr ein langsamer Verfall.
Insgesamt kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass für den Wandel der urbanen Strukturen in der Spätantike eine komplexe "Verschränkung von übergreifenden gesellschaftlichen und stadtspezifischen Veränderungen" (293) ausschlaggebend war und dass selbst innerhalb einer Stadt eine hohe Diversität bei der Gestaltung einzelner Stadträume zu beobachten ist. Die Autorin deutet den im historischen Befund ablesbaren Wandlungsprozess als Reflex parallel existierender Lebensstile, die sich allmählich gegeneinander verschoben. Vor allem durch die Einbeziehung dieser soziologischen Perspektive ist Annette Haug mit ihrer komparativen Studie zum spätantiken Städtewesen in Norditalien ein anregendes Buch gelungen, dem man eine hochwertigere Ausstattung durch den Verlag gewünscht hätte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. das Forum: Neue Beiträge zur Stadtkultur in der Spätantike, in sehepunkte 5 (2005), Nr. 11. http://www.sehepunkte.de/2005/11/stadtkultur.html
[2] Selbstverständlich kann es im gegebenen Rahmen nicht möglich sein, einen vollständigen Überblick über alle relevanten Ansätze zu geben, so vermisst man in Text und Literaturliste berühmte Namen wie beispielsweise Georg Simmel oder Richard Sennett ebenso wie auch aktuelle Ansätze zur Raumsoziologie, zur räumlichen Identität oder auch der Genderforschung. Hier sei als Beispiel nur ein viel diskutiertes Buch der letzten Jahre genannt: Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt / Main 2001.
[3] Z. B. Nancy Gauthier: La topographie chrétienne entre idéologie et pragmatisme, in: G. P. Brogiolo / Bryan Ward-Perkins: The Idea and Ideal of the Town between Late Antiquity and the Early Middle Ages, Leiden u. a. 1999, 195-209.
Ute Verstegen