Marc Schalenberg / Peter Th. Walther (Hgg.): " ... immer im Forschen bleiben". Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 437 S., ISBN 978-3-515-08607-3, EUR 68,00
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Wenn so weite Felder wie Universitätsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und die Geschichte der bürgerlichen Kultur in einem Band gleichzeitig beackert werden, liegt die Vermutung nicht fern, eine Festschrift vorliegen zu haben. Dass eine solche Sammlung dennoch eine lohnenswerte Lektüre darstellen kann, zeigt die von Marc Schalenberg und Peter Th. Walter herausgegebene Festschrift für Rüdiger vom Bruch. Sie vereint zu den genannten Themen, welche die Forschungsinteressen des zu Ehrenden widerspiegeln, eine Reihe anregender und gut zu lesender Aufsätze.
Der Einleitung, in der die Herausgeber den wissenschaftlichen Werdegang vom Bruchs reflektieren, folgen vier thematische Abschnitte unter den Überschriften "Bürgertum und Kultur in Deutschland", "Wissenschaft und ihre Institutionen", "Disziplinen und ihre Geschichte" sowie "Gelehrte Grenzgänger". Das zeitliche Spektrum der Aufsätze reicht vom späten 18. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein; die Mehrzahl der Beiträge konzentriert sich jedoch auf Kaiserreich, Zwischenkriegszeit und Nationalsozialismus. Da hier nicht alle zwanzig Aufsätze besprochen werden können, greife ich im Folgenden Beiträge der verschiedenen Abschnitte heraus, die miteinander verbundene Fragestellungen behandeln.
Im ersten Teil führt zunächst Marc Schalenberg den Leser in die gebildeten Kreise Berlins zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sein Interesse richtet sich auf den in diesen Jahren wachsenden Stellenwert Italiens in den Bildungsdiskursen der preußischen Hauptstadt. Ein idealisiertes, vergangenheitsbezogenes Italienbild wurde, so Schalenberg, zu einer sozialen wie kulturellen 'Leitmarke' der Berliner Elite. Die Spielarten und Funktionen dieser Italophilie für das Selbstverständnis jener Schichten zu untersuchen, skizziert er als Forschungsprogramm. Während Schalenberg den Blick der gebildeten Berliner in die idealisierte Ferne nachzeichnet, thematisiert Andrew Lees die "Gegenrichtung", den Blick bürgerlicher Reformer des Kaiserreiches auf Berlin. Die "jäh angeschwollene Großstadt" galt vielen Deutschen des 19. Jahrhunderts als "Herausforderung" und stimulierte zahlreiche Debatten darüber, wie das Problem des "sittlichen Niedergangs", das sie hervorzubringen schien, bewältigt werden sollte. Längst nicht alle Kritiker der großstädtischen Zustände waren jedoch, so betont Lees, Anhänger einer antiurbanen Agrarromantik. Vielmehr habe in der Mitte des politischen Spektrums die Zuversicht vorgeherrscht, Missstände beseitigen zu können, sei es mithilfe staatlicher Eingriffe oder durch bürgerliche Aktivität in Vereinen. Einen dritten Aspekt des Schnittpunktes von (bürgerlicher) Kultur und Großstadt thematisiert Wolfram Siemann, der in vergleichender Perspektive Parlamentsarchitektur auf ihre Symbolik und politische Botschaft hin befragt. Am Beispiel der vielfältigen Stein gewordenen Vorstellungen des deutschen Parlamentarismus in Bund und Ländern umreißt er das Erkenntnispotenzial einer Geschichte deutscher Parlamentsarchitektur für zukünftige Forschungen.
Die drei folgenden Teile legen einen deutlichen Schwerpunkt auf die Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Den Beginn macht Klaus Ries mit einer Untersuchung zur Entstehung des "politischen Professorentums" an der Universität Jena zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Erstmals, so Ries, seien hier politische Professoren- und Studentenschaft eine Verbindung eingegangen, die Züge einer politischen Bewegung annahm. Dass diese Bewegung gerade in Jena einen Nährboden fand, erklärt er mit Verweis auf die außergewöhnliche Struktur der Universität und knüpft daran ein interessantes Argument zu Reformfähigkeit und Modernität: Gerade die altständische, vormoderne Verfassung der Universität, insbesondere die hohe Anzahl der vom Weimarer Hof finanzierten Extraordinarien, hätten das Phänomen des politischen Professorentums begünstigt. Es habe um 1800 noch keinen Grund gegeben, die später als "Königsweg" in die Moderne betrachtete Entwicklung der Universität zur Staatsanstalt zu bevorzugen. Einem anderen Aspekt und einem anderen Jahrhundert, jedoch auch dem Feld "Professoren und Politik" widmet sich Christoph Jahr mit einer Studie zu Willy Hoppe, dem Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in der NS-Zeit. Am Beispiel des Historikers Hoppe, einer im Vergleich zu bedeutenden Rektorenfiguren wie Theodor Mayer oder Martin Heidegger eher "grauen Maus", liefert Jahr ein differenziertes Bild der Machtstellung, der Handlungsspielräume und Begrenzungen eines nationalsozialistischen Wissenschaftsfunktionärs.
Die vielfältigen Auswirkungen der NS-Herrschaft auf wissenschaftliche Karrieren sind ebenfalls Thema mehrerer Beiträge der letzten beiden Abschnitte. Mitchell G. Ashs sehr lesenswerter Aufsatz "Innovation, Ethnizität, Identität: Deutschsprachige jüdische Psychologen und Sozialwissenschaftler in der Zwischenkriegszeit" plädiert zunächst für eine regionale und disziplinäre Differenzierung der Thesen Shulamit Volkovs zur Erklärung des relativ hohen Anteils jüdischer Wissenschaftler vor 1933. Anschließend diskutiert er die Erfahrung von Emigration und Exil, welche die Grundlage vieler bahnbrechender Forschungen der emigrierten Psychologen und Sozialwissenschaftler gewesen sei. Ohne Verfolgung zu verharmlosen oder ihr gar das Wort zu reden, sei das "Paradoxon" festzuhalten, dass ohne sie manche Innovation nicht zu Stande gekommen wäre. Dass Emigration jedoch auch das Gegenteil, nämlich das Ende einer wissenschaftlichen Karriere und die Zerstörung des eigenen Lebensentwurfes bedeuten konnte, illustriert Peter Th. Walters "Werkstattbericht" zu Hedwig Hintzes Exil in den Niederlanden. Hintze verließ Deutschland im August 1939 und lebte zunächst in Utrecht. Ihre Versuche, in den Niederlanden einen Wiedereinstieg in das akademische Leben zu finden, scheiterten ebenso wie ihre Bemühungen, in die USA auszureisen. Zwar erhielt sie 1940 einen Ruf an die New School of Social Research in New York, jedoch keine Einreisegenehmigung in die USA. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, 1942 starb sie - ob durch Krankheit oder Selbstmord sei, so Walter, letztlich nicht zu belegen.
Die Beiträge Dieter Hoffmanns zum Schöpfer der "Deutschen Physik" Philipp Lenard, Eckart Hennings zu Max Planck und Michael Schürings zu dem Biologen Georg Melcher liefern ergänzende Perspektiven auf Verhalten und Handlungsspielräume von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus sowie den späteren Umgang mit wissenschaftlicher Verstrickung in die Verbrechen des NS-Regimes. Auf der Basis einer detaillierten Untersuchung von Plancks Vorträgen, Strategien und Stellungnahmen distanziert sich Henning von dem "Forschungstrend", Planck als Kollaborateur zu beurteilen, der sich von den Nationalsozialisten als "Aushängeschild der deutschen Wissenschaft" habe instrumentalisieren lassen, und plädiert für eine "Wiederaufnahme des Verfahrens". Schüring zeigt am Beispiel Georg Melchers sehr eindringlich, dass es nach 1945 möglich war, sich der vorherrschenden Praxis zu widersetzen, belastete Kollegen bedenkenlos zu rehabilitieren und Unrecht zu verdrängen. Melcher, der die impliziten Regeln des öffentlichen Diskurses um die NS-Vergangenheit in den 1950er-Jahren bewusst brach, erscheint damit tatsächlich als gelehrter "Grenzgänger", vielleicht mehr als die anderen in diesem Abschnitt versammelten Personen.
Wer sich mit Wissenschaftsgeschichte oder der Geschichte der bürgerlichen Kultur beschäftigt, findet in dem vorliegenden Band lesenswerte und anspruchsvolle Ausschnitte aktueller Forschungen und eine Reihe interessanter Thesen. Die Stärke des Buches liegt, das bringt das klassische Festschrift-Genre mit sich, vor allem in den Einzelbeiträgen, geht jedoch nicht darin auf. Eine Mehrheit der Autoren beschäftigt sich mit der Position der Wissenschaft(en) bzw. des Wissenschaftlers in der Gesellschaft, sodass der Band auf diesem Feld auch über die Summe seiner Teile hinaus anregend wirkt.
Sonja Levsen