Laird M. Easton: Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit, Stuttgart: Klett-Cotta 2005, 575 S., ISBN 978-3-608-93694-0, EUR 39,50
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Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Vierter Band: 1906-1914 (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft; Bd. 50.4), Stuttgart: Klett-Cotta 2005, 1270 S., ISBN 978-3-7681-9814-1, EUR 63,00
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Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Fünfter Band: 1880-1937. Hrsg. v. Günter Riederer und Ulrich Ott, Stuttgart: Klett-Cotta 2008
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Sechster Band: 1916-1918. Hrsg. v. Günter Riederer unter Mitarbeit von Christoph Hilse, Stuttgart: Klett-Cotta 2006
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Zweiter Band: 1892-1897. Hrsg. v. Günter Riederer und Jörg Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 2004
Harry Graf Kessler war ein Mann mit vielen Eigenschaften und Talenten: Publizist, Kunstsammler, Mäzen, Museumsdirektor, Verleger, Diplomat und Politiker. Er verkehrte mit so gut wie allen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit und führte über 57 Jahre lang, von 1880 bis zu seinem Tode 1937, ein Tagebuch, in dem er seine Begegnungen, Beobachtungen und Gedanken festhielt. Dieses Tagebuch stellt eine einzigartige historische Quelle dar, denn Kessler besaß, wie Laird McLeod Easton in seiner neuen Biografie pointiert formuliert, ein geradezu "unheimliches Talent, bei nicht wenigen der Hauptereignisse des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts zugegen zu sein." (12) Eastons Buch profitiert von der Wiederentdeckung bislang verschollener Tagebuchaufzeichnungen Kesslers, die es ihm erlauben, die Tätigkeit und intellektuelle Entwicklung seines Protagonisten vor allem während der wilhelminischen Epoche auf neuer Quellengrundlage nachzuzeichnen. Auf diese Weise gelangt er zu einer umfassenden Würdigung von Kesslers Persönlichkeit und Wirken, die über frühere Biografien hinausgeht. [1]
Ausführlich schildert Easton den familiären Hintergrund und die privilegierte Erziehung Kesslers, der am 23. Mai 1868 in Paris geboren wurde. Der Vater entstammte einer alten Hamburger Bankiersfamilie und war von Wilhelm I. in den Adelsstand erhoben worden. Seine Mutter war eine irische Adelige. Der junge Kessler wuchs in Frankreich, England und Deutschland auf. Nach dem Abitur studierte er Jura in Bonn und Leipzig. Bereits während des Studiums, das er mit einer Promotion abschloss, galt seine eigentliche Leidenschaft jedoch der modernen Kunst. Er hörte Vorlesungen zur Kunstgeschichte und war ein begeisterter Besucher von Museen und Ateliers. Nach dem Studium trat er - ganz in der Tradition englischer Aristokraten - zunächst eine Weltreise an, bevor er im Herbst 1892 als Einjährig-Freiwilliger in eines der vornehmsten Regimenter der preußischen Armee, die in Potsdam stationierten 3. Garde-Ulanen, eintrat.
Nach Beendigung seiner Dienstzeit zog Kessler 1893 nach Berlin. Finanziell unabhängig, betätigte er sich als Schriftsteller, Kunstkritiker und Mäzen. Vor allem durch seine Mitarbeit an der Kunstzeitschrift PAN entstanden Freundschaften zu so unterschiedlichen Künstlern wie Hugo von Hofmannsthal, Aristide Maillol und Henry van de Velde. 1903 wurde Kessler Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar. Sein Versuch, Weimar zu einem Zentrum der modernen Kunst zu machen, scheiterte jedoch am Widerstand des konservativ-nationalistischen Milieus. Als 1906 eine Ausstellung erotischer Werke August Rodins einen Skandal erregte, trat er zurück und widmete sich fortan eigenen mäzenatischen und künstlerischen Projekten. Zu den bekanntesten gehören die gemeinsame Arbeit mit Hofmannsthal am Libretto zu Richard Strauß' "Rosenkavalier" und dem Ballet "Josephslegende" sowie die "Cranach-Presse", deren Markenzeichen aufwändig produzierte Buchausgaben waren.
Trotz seiner gesellschaftlichen Kontakte blieb Kessler zeit seines Lebens ein Außenseiter, was Easton vor allem auf seine Homosexualität zurückführt, die Kessler selbst in seinen Tagebuchaufzeichnungen diskret verschweigt. In anderer Hinsicht dagegen war er ganz und gar ein Repräsentant der wilhelminischen Epoche. Wie viele seiner Zeitgenossen war auch Kessler überzeugt von der Notwendigkeit einer aggressiven deutschen "Weltpolitik" und Flottenrüstung. Und so kann es nicht überraschen, dass auch er im August 1914 der weit verbreiteten Kriegsbegeisterung anheim fiel. Im Ersten Weltkrieg diente Kessler zunächst als Offizier in Belgien und an der Ostfront, später in diplomatischer Mission als Leiter der deutschen Kulturpropaganda an der Gesandtschaft in Bern. Dabei war er ein Bewunderer Ludendorffs und ein Verfechter weitreichender Kriegsziele und Annexionen, die, wie Easton darlegt, den Plänen der 3. OHL und der Alldeutschen in nichts nachstanden.
Im November 1918 wurde Kessler für kurze Zeit deutscher Gesandter in Warschau und hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die im Osten stehenden deutschen Truppen unbehelligt durch Polen zurückmarschieren konnten. Die militärische Niederlage und der Zusammenbruch der Monarchie ließen ihn zu einem "Vernunftrepublikaner" werden. Er engagierte sich fortan in verschiedenen Organisationen der Friedensbewegung und entwarf ein Programm für einen "wahren Völkerbund", das zahlreiche Gedanken des europäischen Einigungsprozesses vorwegnahm. In der Öffentlichkeit wurde er deshalb als der "rote Graf" bekannt. Sein Einsatz für die Weimarer Republik und sein Wirken für den Völkerbund machten Kessler zu einem entschiedenen Gegner der Nationalsozialisten. 1933 emigrierte er nach Frankreich, wo er nach zeitweiligem Aufenthalt auf Mallorca am 30.11.1937 in Lyon starb.
Eastons Biografie bietet eine sachkundige Einführung in das vielschichtige Leben und Wirken Kesslers, die jedem Leser, der sich für das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben in der Zeit des Umbruchs zwischen Kaiserreich und Diktatur interessiert, zu empfehlen ist. Die außerordentliche Vielschichtigkeit von Kesslers Aktivitäten wird sich allerdings nur demjenigen erschließen, der zusätzlich zu seinen Tagebüchern greift. Diese sind nicht nur ein eindrucksvolles persönliches Dokument, sondern eine Fundgrube zur Geschichte von Kunst, Literatur, Politik und Gesellschaft in Europa im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Nachdem bereits zwei Bände der Tagebuchedition veröffentlicht wurden, die den Zeitraum von 1892-1905 umfassen [2], liegt jetzt ein weiterer Band mit den Aufzeichnungen aus den Jahren 1906-1914 vor. In diesen Zeitraum fallen u. a. der Rücktritt als Leiter des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar, die Griechenlandreise mit Hofmannsthal und Maillol sowie die großen künstlerischen Projekte: das Libretto zu Richard Strauß' "Rosenkavalier" und die Handlung für die "Josephslegende", die Pläne für ein Nietzschedenkmal in Weimar und die Gründung der "Cranach-Presse". Doch ist damit der Inhalt des Bandes nicht einmal annähernd beschrieben. Allein das Namensregister umfasst 329 Seiten und liest sich wie das "Who is Who" der europäischen Gesellschaft dieser Zeit. Es enthält Anmerkungen zu den aufgeführten Personen, die dem Leser hilfreiche Informationen geben. Hinzu kommen ein Verzeichnis der Werke und Projekte Kesslers sowie ein Register der Schreiborte. Allerdings ist zu fragen, ob tatsächlich eine vollständige Edition sämtlicher Tagebuchaufzeichnungen notwendig war, zumal die Herausgeber selbst orthografische Eigenheiten und grammatische Fehler Kesslers buchstabengetreu übernommen haben. Eine begründete Auswahl wäre vermutlich ebenso sinnvoll, in jedem Fall jedoch entschieden leserfreundlicher gewesen. Auch aus diesem Grund darf man der geplanten CD-Version mit Spannung entgegensehen, die eine gezielte Suche außerordentlich erleichtern wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Peter Grupp: Harry Graf Kessler 1868-1937. Eine Biographie, München 1995; Burkhard Stenzel: Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, Weimar 1995.
[2] Vgl. Hartwin Spenkuch: Rezension von: Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Zweiter und Dritter Bd.: 1892-1897 sowie 1897-1905. Hrsg. v. Günter Riederer und Jörg Schuster, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/06/8386.html .
Peter Walkenhorst