Norbert Herms: Zwischen »schädlichen Einflüssen« und »wertvollen Erbströmen«. Der »rassenhygienische« Diskurs in Deutschland zwischen 1891 und 1914 (= Berichte und Studien; Bd. 83), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 295 S., ISBN 978-3-8471-1072-9, EUR 40,00
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Die Geschichte der "Rassenhygiene" und "Eugenik" ist seit langem Gegenstand intensiver historischer Forschung mit einem entsprechend umfangreichen und ausdifferenzierten Forschungsstand. Aus diesem Grund nimmt man die im Rahmen einer Dissertation entstandene Studie von Norbert Herms mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis in die Hand. Denn ihr erklärtes Ziel ist es, "den gesamten deutschen »rassenhygienischen« Fachdiskurs um die »Entartung und Höherzüchtung« der Menschheit zwischen 1891 und 1914 theoriebezogen aufzuschlüsseln" (38). Dieses ambitionierte Vorhaben soll durch eine historische Diskursanalyse verwirklicht werden. Als Quellengrundlage hierfür dienen die beiden deutschsprachigen Fachzeitschriften, die "Politische-Anthropologische Revue" (PAR) und das "Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" (ARG) sowie weitere für den "rassenhygienischen" Diskurs einschlägige Monografien, Aufsätze, Tagungsberichte und Rezensionen. Auf der Grundlage dieser Quellen wird das Meinungsspektrum der sich als "Rassenhygieniker" verstehenden Autoren untersucht und danach gefragt, "welche Unterschiede es in den Theorien, Interpretationen oder sogar Forderungen gab" (37). "Welche differenten Positionen zeichneten sich innerhalb des »rassenhygienischen« Diskurses ab und können diese Positionen nach deren Radikalität systematisch geordnet werden?" (37), lauten die Leitfragen.
Um sie zu beantworten, fasst Herms die den Quellen entnommenen Strömungen und Tendenzen in Kategorien zusammen, bildet Autorengruppen und arbeitet zentrale Aussagen heraus, aus denen er Schlussfolgerungen "über das Gesamtbild und die Radikalität der zu dieser Zeit noch in ihren Anfängen steckenden »Rassenhygienebewegung«" ableitet (38). Bei der Analyse der untersuchten Texte und der Darstellung seiner Ergebnisse verzichtet er explizit auf eine theoretisch reflektierte Begrifflichkeit. Stattdessen werden zur Bezeichnung der gebildeten Kategorien und Unterkategorien die im zeitgenössischen Diskurs verwendeten Begriffe übernommen, "die mit ihrer Prägnanz bereits zur Charakterisierung des diskursiven Kontextes beitragen" sollen (39). Die entsprechenden Kategorien lauten mithin u.a. "Kontraselektivität", "Falsche Humanität", "Schutz der Schwachen", "Blutmischung", "Negative Eugenik" oder "Rassenmischung". Eine Definition dieser Ausdrücke würde laut Herms eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem semantischen Gehalt der Texte voraussetzen, die seine Arbeit "weder zu leisten vermag noch beansprucht". Außerdem sei eine solche Definition zur Beantwortung seiner Forschungsfrage "nach der Heterogenität und Entschlossenheit der frühen »Rassenhygiene« in ihren detaillierten theoretischen Bemühungen und praktischen Forderungen zur Verhinderung der scheinbaren »Entartung« und der Erreichung der propagierten »Höherzüchtung« auch nicht sachdienlich" (39) - eine Auffassung, die der Rezensent nicht nachvollziehen kann. Auch der wichtigen Frage nach dem Wissenschaftscharakter der "Rassenhygiene" weicht Herms aus und verweist in diesem Zusammenhang schlicht auf die einschlägige weiterführende Literatur (40f.).
Faktisch besteht die Untersuchung zum überwiegenden Teil aus der Wiedergabe von Argumenten und Positionen des "rassenhygienischen" Diskurses, gespickt mit unzähligen Quellenzitaten und -begriffen (was der Lesbarkeit alles andere als zuträglich ist). Eine kritische Auseinandersetzung mit den referierten Positionen und Argumenten findet dagegen nirgendwo statt. Stattdessen werden diese in einem Untersuchungsraster verschiedenen Diskurssträngen und -ebenen sowie drei "Radikalitätskategorien" zugeordnet. Die Radikalitätskategorisierung orientiert sich dabei an der Frage, "ob die frühen »rassenhygienischen« Diskurspositionen im Detail bereits mit bestehenden religiösen, politischen und gesellschaftlichen Moralvorstellungen brachen, und wenn ja, in welcher Form und Intensität" (62).
Als zentrales Ergebnis seiner Untersuchung konstatiert Herms, dass die frühe "rassenhygienische" Bewegung äußerst vielschichtig und durch eine große Bandbreite zum Teil widersprüchlicher Positionen gekennzeichnet gewesen sei. "Der Diskurs war fachlich-argumentativ von großer Heterogenität und Widersprüchlichkeit geprägt und wartete sowohl mit sozialistisch-antikapitalistischen als auch konservativ-aristokratischen oder »sozialdarwinistisch«-kapitalistischen Argumentationen auf" (260). Es bestand große Uneinigkeit in Bezug auf das "rassenhygienische Wissen", da die sozialbiologischen Zusammenhänge vielfach ungeklärt waren und die Autoren diesbezüglich konträre Auffassungen vertraten. Konsens herrschte jedoch von Anfang an im Hinblick auf den übergeordneten Anspruch der Bewegung, die "Rassenhygiene" als ernstzunehmende Wissenschaft zu etablieren und so auf die öffentliche Meinung einzuwirken. So weit, so bekannt. In dieser Hinsicht bestätigt die Untersuchung den Forschungstand, fügt ihm jedoch keine grundlegend neuen Erkenntnisse hinzu.
Hinsichtlich der von ihm aufgeworfenen Frage nach der Radikalität der im Diskurs vertretenen Positionen schreibt Herms im Fazit, dass die Untersuchung "bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein recht radikales Bild" der "Rassenhygiene" und der von ihr propagierten praktischen Maßnahmen ergeben habe (261). An anderer Stelle spricht er sogar von "offenkundigen Parallelen zur NS-Gesellschaft" (254). Gleichwohl ist er bemüht, die Bedeutung dieser radikalen Positionen für die späteren Verbrechen während des Nationalsozialismus zu relativieren. So habe die Untersuchung gezeigt, dass die diskutierten Theorien und Maßnahmenkataloge zwar "in der Summe recht radikal gestaltet waren, jedoch nur selten konkrete realpolitische Forderungen artikuliert wurden" (252). Solche Forderungen nach einer konkreten Umsetzung "rassenhygienischer" Konzepte in die politische Praxis seien erst infolge des Ersten Weltkrieges und der durch ihn bewirkten gesellschaftlichen Ausnahmesituation wirkungsmächtig geworden. Vor der Zäsur des Ersten Weltkrieges habe sich der "rassenhygienische" Diskurs in einer "äußerst konfliktreichen Konzeptualisierungsphase und noch nicht in seiner letzten Konsequenz" befunden (252). Diese Argumentation verkennt jedoch, dass die von den "Rassenhygienikern" der wilhelminischen Epoche entwickelten Ideen und Deutungsmuster die Bedingungen der Möglichkeit für ihre spätere Radikalisierung und Umsetzung während des NS-Regimes darstellten und deshalb nicht losgelöst von diesen Entwicklungen betrachtet werden können.
Insgesamt zeichnet die Arbeit den deutschen Diskurs zur "Rassenhygiene" vor dem Ersten Weltkrieg mit großer Akribie und Ausführlichkeit nach, ohne dadurch jedoch nennenswert neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern. Irritierend ist die Vehemenz mit der Herms versucht, die frühen Vertreter der "Rassenhygiene" von jeglicher Verantwortung für die politische Implementierung des "rassenhygienischen" Paradigmas während des Nationalsozialismus freizusprechen. Denn seine eigenen Befunde könnten durchaus auch eine andere Lesart unterstützen.
Peter Walkenhorst