Lucia Scherzberg (Hg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdiszipinären Vergleich. In Zusammenarbeit mit Werner Müller, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005, 227 S., ISBN 978-3-506-72934-7, EUR 29,90
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Mit einer gewissen Verspätung gegenüber anderen kulturwissenschaftlichen Fächern wendet sich nun auch die katholische Theologie und Kirchengeschichtsschreibung der Frage zu, wie innerhalb ihres Faches mit dem Erbe der nationalsozialistischen Zeit umgegangen wurde. Freilich geht es in dem von Lucia Scherzberg herausgegebenen Sammelband nur am Rande um "Theologie und Vergangenheitsbewältigung". So zeichnen die Beiträge im ersten Teil keine Erinnerungsgeschichte nach, sondern werfen Schlaglichter auf die "Katholische Kirche und Theologie im Nationalsozialismus" selbst. Die Beiträge von Kevin P. Spicer über einen mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Pfarrer, von Antonia Leugers, die sich mit der Haltung der deutschen Bischöfe gegenüber dem Nationalsozialismus beschäftigt, und Lucia Scherzberg, die das kirchenreformatorische Programm pronationalsozialistischer Theologen nachzeichnet, resümieren zudem alle Forschungsergebnisse, die die Autoren schon in anderen Kontexten vorgelegt haben. Freilich repräsentieren die Texte die neueste Etappe der wissenschaftlichen "Vergangenheitsbewältigung". Lange auch den wissenschaftlichen Diskurs dominierende Kategorien wie "Versagen" bzw. "Bewährung" oder "Anpassung" bzw. "Widerstand" spielen in ihnen kaum noch eine Rolle. Zwar ist insbesondere dem Beitrag von Leugers durchaus noch die Lust an Zuspitzungen und das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber der aus ihrer Sicht "kirchenloyalen Forschungs- und Erinnerungsarbeit" (32) vieler kirchennaher Wissenschaftler und Zeitzeugen anzumerken. Aber auch bei ihr geht es wie in den Beiträgen von Spicer und Scherzberg nicht um den Aufweis von Schuld, sondern hauptsächlich um eine möglichst präzise Rekonstruktion jener Mentalitäten und Deutungsmuster, die in unterschiedlichen Abstufungen einige Pfarrer, Theologen und Bischöfe in bisweilen große geistige Nähe zum Nationalsozialismus gebracht haben. Es fällt auf, dass hier besonders die theologischen und kirchlichen Reformer als Brückenbauer fungierten. Weder dem Lehramt noch der Universitätstheologie gelang es, "Hitlers Theologie", die Rainer Bucher in einem weiteren Beitrag rekonstruiert, auf der Höhe der Zeit genuin theologisch zu kontern. Entweder man beantwortete die Herausforderung konservativ nach innen mit der verstärkten Propagierung eines antimodernistischen Dispositivs der Dauer. Oder Theologen wie Joseph Lortz, Karl Adam oder Michael Schmaus suchten einen Weg aus der institutionellen antimodernistischen Unbeweglichkeit, indem sie Hitler affirmierten.
So sinnvoll es generell scheint, diese Ergebnisse zu kontextualisieren und mit den Versuchen zur "Aufarbeitung der Vergangenheit in anderen Kulturwissenschaften" zu vergleichen, so wenig ist dies im zweiten Teil des Sammelbandes gelungen. Dies liegt weniger an der Qualität der einzelnen Beiträge als vielmehr am offenkundigen Fehlen eines gemeinsamen Fragenkataloges, ja Themas. So widmen sich Ingo Haar mit dem Historiker Friedrich Valjavic und Jutta Held mit dem Kunsthistoriker Hans Jantzen einzelnen Wissenschaftlern, die in unterschiedlicher Intensität Elemente des nationalsozialistischen Diskurses für ihre wissenschaftliche Arbeit "fruchtbar" machten. Wie bei den Theologen wird hier eine gewisse Affinität zwischen fachlicher Innovation und nationalsozialistisch inspiriertem Denkstil sichtbar. Dazwischen zeichnet August H. Leugers-Scherzberg allerdings souverän die unwillige Aufarbeitung der Vergangenheit der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1990er-Jahren nach, und Gerhard Sauder skizziert akribisch die Entstehung und Rezeption des "Internationalen Germanistenlexikons" - Beiträge, die sich zwar mit der "Vergangenheitsbewältigung" beschäftigen, denen es aber an Pendants im ersten Teil des Buches fehlt. Gar nicht in den Blick gerät zudem leider die evangelische Kirche und Theologie.
Am ehesten den durch den Buchtitel geweckten Leseerwartungen gerecht werden die vier den Band abschließenden Aufsätze von Rainer Kampling, Norbert Reck, Katharina von Kellenbach und Ottmar Fuchs, die der Frage nach "'Erinnerung' und 'Schuld' in theologischer Reflexion und pastoraler Praxis" teilweise auch in explizit konfessionsübergreifender Perspektive nachgehen. Allerdings scheint jene breite Grauzone zwischen Täter- und Opferschaft, die die neuere historische Forschung in den letzten Jahren facettenreich vermessen hat und als Charakteristikum individuellen und kollektiven Denkens und Verhaltens von nicht nur katholischen Deutschen im Nationalsozialismus kennzeichnet, theologisch noch weit gehend unbearbeitet. Hier stand und steht das Nachdenken über die Opfer im Vordergrund, wie Norbert Reck in seinem Rückblick auf "Theologien nach Auschwitz" zeigt und es Ottmar Fuchs in dem Versuch, eine "Pastoraltheologie nach Auschwitz" zu skizzieren, aktuell vormacht. Kampling und Reck vermögen in ihren Beiträgen über Romano Guardini bzw. Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz allerdings einen Schritt weiter zu gehen: Das theologische Nachdenken über den Holocaust erweist sich als spezifische "Vergangenheitsbewältigung" von Theologinnen und Theologen, die als apolitischer junger Professor (Guardini), Luftwaffenhelfer (Moltmann), hilflose Jugendliche (Sölle) oder minderjähriger Soldat (Metz) selbst dieser Grauzone angehörten.
Es ist ein Verdienst dieses heterogenen Sammelbandes, den Blick auf diese individuelle "Vergangenheitsbewältigung" im Modus der Wissenschaft gelenkt zu haben. Zweitens ist hervorzuheben, dass über Fächergrenzen hinweg die noch schattenhaften Konturen einer möglicherweise engen Verzahnung von wissenschaftlicher "Modernisierungsleistung" und Offenheit für den nationalsozialistischen Diskurs sichtbar werden. Steht hier erneut eine Diskussion um das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung an? Das Erscheinen weiterer interdisziplinär erarbeiteter Untersuchungen zu diesem Problemkomplex ist jedenfalls zu wünschen.
Christian Schmidtmann