Hubert Wolf / Klaus Unterburger (Bearb.): Eugenio Pacelli. Die Lage der Kirche in Deutschland 1929 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe A: Quellen; Bd. 50), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 287 S., ISBN 978-3-506-75672-5, EUR 29,90
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Der Abschlussbericht des ehemaligen Nuntius Eugenio Pacelli an den Sekretär der päpstlichen Konsistorialkongregation, Kardinal Carlo Perosi, über seine Tätigkeit in Deutschland vom 18. November 1929 kann als ein aufschlussreiches zeitgeschichtliches Dokument im Hinblick auf die innere Geschichte des deutschen Katholizismus, aber auch für die kirchenpolitische Laufbahn des späteren Kardinalstaatssekretärs und Papstes gelten. Der Text wird im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung geboten und beeindruckt durch seine detailreiche Beschreibung der kirchlichen Verhältnisse im Reich in der Sicht des päpstlichen Nuntius, der am Ende seiner Berliner Tätigkeit zu den herausragenden Gestalten des diplomatischen Korps in der Reichshauptstadt zählte.
Im Wesentlichen ist die Rolle Pacellis in den Verhandlungen über das bayerische (1924) und das preußische (1929) Konkordat ebenso wie über das zunächst gescheiterte Reichskonkordat (1927) bekannt. Die Ausführungen charakterisieren seine kirchenpolitische Position und enthüllen seine Einschätzungen der deutschen Verhältnisse, wobei es schwer fällt festzustellen, ob die Erfahrungen als vatikanischer Diplomat im Dienste der Friedensbemühungen Benedikts XV. seit 1916 sein Verhältnis zu Deutschland wesentlich geprägt haben. Dies ist nicht nur dem amtlichen Charakter des Dokuments geschuldet, sondern dürfte auch auf Charakter und Haltung des Berichterstatters zurückzuführen sein.
Die Herausgeber kommentieren ausführlich den Lagebericht, indem sie die notwendigen biografischen Details geben, aber auch den historischen Hintergrund klären, der zum Verständnis des Dokuments erforderlich ist. Dies geschieht mit einem hohen Maß an Präzision und Sachkenntnis. Nach ihrer Ansicht war Pacellis kirchenpolitische Haltung in erheblichem Maße durch die Erfahrungen der päpstlichen Friedensdiplomatie während des Ersten Weltkrieges geprägt. Er hatte im Sommer 1917 im Auftrag des Papstes mit der deutschen Regierung verhandelt, nachdem diese eine päpstliche Vermittlung angeregt hatte.
Das Scheitern der Initiative, die Pacelli seinerzeit auch als persönliche Niederlage empfand, sollte sein außenpolitisches Denken bis in den Zweiten Weltkrieg bestimmen. Dies bestärkte ihn in der Überzeugung, dass die römische Kirche unter allen Umständen als societas perfecta ein Völkerrechtssubjekt sei, das auch ohne eigenes Territorium als Verhandlungspartner gegenüber der weltlichen Sphäre und den einzelnen Nationalstaaten auftreten könne. Die jeweiligen gesellschaftlichen Kräfte im Innern, wie die Deutsche Zentrumspartei, hielt er für sekundäre Größen, ohne ihr innenpolitisches Gewicht zu verkennen. Deutschland sei das klassische Land der Vereine, schreibt der ehemalige Nuntius. Er betrachtet den politischen Katholizismus, wie die Lageanalyse von 1929 belegt, zwar als wertvolle innenpolitische Stütze für die kirchlichen Interessen, traut ihm aber keine wirklich gestaltende Kraft im Konfliktsfall, etwa in der Konkordatsfrage zu.
Der Nuntius berichtet nach einem allgemeinen statistischen Überblick über die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland, im Einzelnen über die religiöse, sittliche und politische Haltung der Laien und die Rolle des Klerus. Das Leben der kirchlich gesinnten deutschen Katholiken als Minderheit in Staat und Gesellschaft analysiert er unter anderem im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den politischen Parteien und zum Problem der Konfessionsschule. Beachtet werden auch die katholischen Laienorganisationen in ihrem Verhältnis zur Hierarchie. Die angeblichen und tatsächlichen Gefahren des säkularen Lebens betrachtet er bei aller Differenzierung aus dem Blickwinkel einer neuscholastisch geprägten Moral, die die Katholiken vor Häresien und falschen Lebensentwürfen, etwa dem Hedonismus zu schützen habe. Dies sei vor allem die Aufgabe der kirchlichen Oberen. Die Bischöfe und Priester müssten den notwendigen Eifer für die Sache des Glaubens zeigen, und alle Nachlässigkeit vermeiden. Pacelli zögert nicht, aktuelle Fehlentwicklung in seiner Sicht anzuprangern und nennt auch die Namen von einzelnen katholischen Persönlichkeiten, die sich in einem Konflikt mit der kirchlichen Obrigkeit befinden, und verlangt strengere Grundsätze für die Erteilung der bischöflichen Druckerlaubnis für religiöse Schriften, als dies bisher üblich gewesen sei. Die Haltung der einzelnen Bischöfe wird nach Begabung, Charakter und theologischer Position im Verhältnis zum Heiligen Stuhl sehr detailliert beurteilt, wobei manches kritische Wort über jene Oberhirten fällt, die nicht in Rom studiert hatten. Auffällig ist hier das kritische Urteil über den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, den Breslauer Fürstbischof Kardinal Bertram. Die Herausgeber sprechen insofern mit Recht von einem Primat des Kirchenrechts, das die Argumentation Pacellis bestimme.
Pacelli sieht die katholische Kirche in der Auseinandersetzung mit starken weltanschaulichen Gegnern höchst unterschiedlicher Art. Gegen Liberalismus, Sozialismus und Bolschewismus als feindliche Ideologien habe sie sich zu wehren, gegenüber dem Protestantismus müsse sie sich als Minderheit behaupten. Im Hinblick auf die spätere Haltung Pacellis als Kardinalstaatssekretär und Papst gibt der Lagebericht zahlreiche Hinweise auf seine kirchenrechtlichen Vorstellungen, die eine ausgesprochene Distanz gegenüber der deutschen Innenpolitik enthüllen. Seine Ansichten über die Parteien, insbesondere die Zentrumspartei, sind zurückhaltend und entsprechen dem kirchenpolitischen Interesse der Kurie. Es fällt jedoch auf, dass er dem Vorsitzenden der Zentrumspartei seit 1928, dem Prälaten Ludwig Kaas, ein günstiges Zeugnis ausstellt. Einer Koalition des Zentrums mit den Rechtsparteien, d. h. vor allem mit den protestantisch dominierten Deutschnationalen gibt er im Hinblick auf das stets von Rom angestrebte Reichskonkordat den Vorzug, gesteht aber ein, dass diese, ebenso wie die Deutsche Volkspartei, ein Reichskonkordat ablehnten.
Den Nationalsozialisten misst Pacelli noch kaum Bedeutung zu und nimmt auch die von ihnen drohenden Gefahren nicht allzu ernst. Insgesamt lässt der Bericht über die kirchenpolitische Lage in Deutschland vor der Krise der Dreißigerjahre erkennen, dass der künftige Pontifex 1929 wenig auf die künftigen ideologischen und weltpolitischen Auseinandersetzungen und den Zweiten Weltkrieg vorbereitet war. Andererseits legt der Rechenschaftsbericht den Schluss nahe, dass der künftige Kardinalstaatssekretär einem Reichskonkordat angesichts der inneren und äußeren Lage hohe Priorität einräumte.
Herbert Hömig