Johannes Grave: Landschaften der Meditation. Giovanni Bellinis Assoziationsräume (= Quellen zur Kunst; Bd. 23), Freiburg/Brsg.: Rombach 2004, 131 S., 10 Abb., ISBN 978-3-7930-9399-2, EUR 16,00
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In der von N. Gramaccini herausgegebenen Reihe "Quellen zur Kunst" ist unter dem Titel "Landschaften der Meditation" eine Studie des Kunsthistorikers und Mediävisten Johannes Grave erschienen, welche die landschaftlichen Hintergründe einiger religiöser Gemälde Giovanni Bellinis als "Assoziationsräume" definiert. Sie stellt eine Erweiterung seines 1998 erschienen Aufsatzes zu dem "Heiligen Franziskus" der Frick Collection dar (zit. 31). Auch in dem vorliegenden Band widmen sich 2 der 6 Kapitel schon in der Überschrift diesem viel diskutierten Gemälde. Man wird dem Autor also nicht zu nahe treten, wenn man sein Hauptinteresse bei diesem Bild vermutet. Doch erheben seine Überlegungen den Anspruch allgemeinerer Bedeutung und vermögen ihn auch einzulösen.
Zunächst aber erfordert die Untersuchung eine intensive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen der Diskussion um die Deutung der Tafel. Der Autor gibt, in dem er die These von M. Meiss, wie auch andere Deutungsversuche zurückweist, selbst die Einordnung seiner These in den Forschungskontext (30-42). Bekanntlich stand dabei die Frage, ob das Gemälde - trotz des fehlenden Seraphen und anderer nicht unbedeutender Abweichungen von der Bildtradition - die Stigmatisierung des Heiligen darstelle. Meiss hatte diese Diskussion mit seiner von der nicht konsequent den natürlichen Gesetzmäßigkeiten entsprechenden Lichtführung ausgehenden Interpretation ausgelöst, nach der eine Stigmatisierung durch Licht dargestellt sei.
Graves gegen allzu eindeutig festlegende Deutungsvorschläge gerichtete These von der intendierten "Mehrdeutigkeit der Lesarten" (51/52) der Landschaftshintergründe von Giovanni Bellinis religiösen Bildern wird durch 6 längere Quellenauszüge belegt. Im Text im lateinischen Original zitiert und in einem Anhang in deutscher Übersetzung vorgelegt, stehen sie für "Referenzkontexte" aus Bereichen der Heiligenlegende, genauer gesagt dem "Speculum perfectionis", aus Gleichnissen aus biblischen Texten und vor allem aus dem spätmittelalterlichen allegorischen Schrifttum, hier besonders Natur- und Gartenallegorien aus der augustinischen Schrift "De civitate dei" und Giovanni da Gimignanos "Summa de exemplis et similitudinibus rerum". Die Verknüpfung zur Zeit Bellinis bilden Textpassagen des 1456 verstorbenen Lorenzo Giustiniani, der ab 1451 Patriarch von Venedig gewesen ist. Giustiniani führte eine "Tradition mittelalterlichen allegorischen Denkens weiter" (ebd.), nach der die Betrachtung der Natur zu einer religiösen Meditation über die Schöpfung anregen soll.
Dieselbe "Mehrdeutigkeit der Lesarten", die diese Texte in der Betrachtung der Natur vorschlagen, zeichne auch die Details der Landschaftshintergründe der Gemälde Giovanni Bellinis aus. Die durch die Bilder geschaffenen Assoziationsräume, so heißt es, "bieten dem Betrachter Raum zu einer Zerstreuung im positiven Sinne" (24). Die einzelnen Bilddetails, seien "sinnliches Material [...], das in unendlich scheinenden Differenzierungen und Allegorienketten für die fromme Betrachtung aufbereitet werden konnte." (55) Der angemessene Umgang mit den Gemälden sei folglich die "Rezeption durch Meditation" (65). Den Schlüssel dazu sieht Grave in der Aussage - und hier verschiebt sich die Deutungsfrage zur Gattungsfrage -, dass es sich bei den meisten der von ihm besprochenen Gemälde Giovanni Bellinis um "Andachtsbilder" handele, denen die Rezeptionshaltung einer religiös motivierten Meditation angemessen sei.
Leider fällt Grave, in dem er der älteren Forschung den Vorwurf macht, Details "eindeutig" in Deutung "übersetzen" zu wollen (41, 56), allzu häufig in eine falsche Frontstellung gegenüber der kunsthistorischen Interpretation. Durch die "Separierung der Details im Bild" sei der "umfassende Kontext" "aus dem Blick" (55) geraten, die Auslegung gerate so zu einem "angestrengten Puzzlespiel" (41). Doch wird man gerade Meiss - so problematisch dessen These von der Stigmatisierung durch Licht auch sein mag - vor dem Vorwurf, Bilddetails allzu "eindeutig zu übersetzen" in Schutz nehmen müssen: In der Detailinterpretation legt er, ganz im Sinne von Graves These, mit vielen Konjunktiven Deutungsmöglichkeiten vor. Auch andere Autoren benutzen auffällig häufig die Worte "assoziativ" und "Konnotation".
Das unbestreitbare Verdienst von Graves kleinem Buch ist, seine These schlüssig mit Quellen belegt und so eine in Grenzen "offene" Rezeptionshaltung auch für die religiöse Malerei der Zeit um 1500 nachgewiesen zu haben. Damit gelingt es ihm durchaus, "das allegorische Verfahren selbst einsichtiger [zu] machen". Es steht damit außer Zweifel, dass die genannten Bilder dem zeitgenössischen gläubigen Betrachter unzählige Möglichkeiten zu einer religiös motivierten Meditation boten. Doch kann das nicht die Haltung des Kunsthistorikers sein. Problematisch wird die Argumentation Graves vor allem, wenn der Begriff der "freien Meditation" (66) ins Spiel kommt. Die Meditation hatte sich immer unter dem Thema der Verehrung der Schöpfung zu entwickeln. Der Satz "Die Verteilung der Details gehorcht also keiner Struktur, die sich einem geordneten Erzählen vergleichen ließe" (24) mag richtig sein, doch begnügt sich der Kunsthistoriker damit, sind wir nur allzu nah an Hetzers: "Der Venezianer sieht die Welt ornamental [...]". [1] Die Frage wäre: Welcher anderen Struktur folgt sie? Der eines Bildes. Ein Bild ist nie einfach linear beschreibend, seine Wahrnehmung - unter anderem hat Baxandall [2] darauf hingewiesen - folgt immer einer anderen Zeitstruktur als das Lesen eines Textes. Die Grenzen der "Assoziationsräume" abzustecken, wie sie sich dem angenommenen zeitgenössischen Betrachter stellten, wäre Aufgabe kunstwissenschaftlicher Erklärung. Der Autor tut das ja auch (66 ff.).
Doch muss man feststellen, dass er sich durch seine These von der "Assoziation" und der "Meditation" über dem Bild den analytischen Blick verstellt. So lässt sein Deutungsversuch (66/67) außer acht, dass, wie Meiss aufgewiesen hat, mit der Landschaft in dem Gemälde eine ganz bestimmter Ort wenn nicht abgebildet, so doch unmissverständlich gemeint ist: La Verna, der Ort, an dem Franziskus die Stigmata empfangen hat. Die dargestellte Landschaft ist eine spezifische Landschaft und eine, die sich von vielen anderen Landschaften Giovanni Bellinis und anderer Maler seiner Zeit unterscheidet. Das zu vernachlässigen und sie auf ihre Details zu reduzieren, hieße, die Fehler der vielgescholtenen ikonologischen Interpretation zu perpetuieren. Sicher, der Heilige ist öfter in dieses Gebirge gereist, und ein Argument für eine Stigmatisierungsdarstellung ließ sich daraus nicht schlüssig ableiten. Doch die Tatsache, dass hier La Verna dargestellt ist, ist entscheidend für die Interpretation und die Bewertung des Bildes, sie wird ihre Wirkung auch auf die religiös motivierte Meditation gehabt haben. Sie gehört zu den Assoziationskontexten des Bildes und sie macht einen Großteil seiner Besonderheit aus, auch wenn eine ähnliche Gebirgslandschaft im Bild des "Heiligen Hieronymus" der Uffizien nur wenig später zu einer Chiffre für Wüste weiterentwickelt werden konnte.
Zudem wischt Grave technologische Argumente nur allzu nonchalant vom Tisch. Leider wird eine letzte Unsicherheit der Deutung von Bellinis Heiligem Franziskus bestehen bleiben, so lange nicht Sicherheit über die vermutliche Formatveränderung des Bildes herzustellen ist. Dies mit der rhetorischen Frage abzutun, wer sollte ein Interesse an einem "solchen barbarischen Akt" gehabt haben (35), ist allzu einfach. Beispiele für solche Akte gibt es leider genug. Und: Wer heute in der Beschreibung eines Landschaftsgemäldes, von einem "vereinheitlichenden Braunton" (25) spricht, sollte sich sehr gut über Erhaltungszustand von Firnis und Pigmenten kundig gemacht haben.
Anmerkungen:
[1] Zit. M. Ewel: Das Darstellungsproblem "Figur und Landschaft" in der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1993, 13.
[2] In der Einleitung zu seinem "Die Ursachen der Bilder" (dt. 1990, zuerst 1985).
Heiner Krellig