Ineke Sluiter / Ralph M. Rosen (eds.): Free Speech in Classical Antiquity (= Mnemosyne; 254), Leiden / Boston: Brill 2004, xii + 450 S., ISBN 978-90-04-13925-1, EUR 127,00
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Der vorliegende Band versammelt die Beiträge, die auf dem zweiten "Penn-Leiden Colloquium on Ancient Values" im Juni 2002 an der Universität von Pennsylvania, das dem Thema "Freedom of Speech in Classical Antiquity" gewidmet war, vorgetragen worden sind.
Ein zentrales Anliegen der Veranstaltung war es aufzuzeigen, dass Freiheit der Rede in der griechischen und römischen Antike nicht im modernen Sinne als ein Recht des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern vielmehr als konstitutives Element bürgerlicher Identität verstanden wurde. Explizit beschäftigen sich hiermit die beiden Herausgeber in ihrem Einführungskapitel (General Introduction, 1-19) sowie der Beitrag von D.M. Carter ("Citizen Attribute, Negative Right: A Conceptual Difference between Ancient and Modern Ideas of Freedom of Speech", 197-220).
Mit der Entstehung der Redefreiheit, der isegoria wie der parrhesia, in der griechischen Antike setzen sich J. McInerney ("Nereids, Colonies and the Origins of isegoria", 21-40) und K.A. Raaflaub ("Aristocracy and Freedom of Speech in the Graeco-Roman World", 41-61) auseinander. Während McInerny die Anfänge des gleichen Rederechts aller Bürger in den apoikiai der archaischen Epoche sieht, diagnostiziert Raaflaub sie erst in den demokratisch verfassten Poleis der klassischen Zeit. In dem Zusammenhang streicht er auch die Interdependenz von Demokratie und Redefreiheit heraus, die sich seiner Ansicht nach nicht zuletzt darin manifestiert, dass die Freiheit der Rede in aristokratischen Konzeptionen und Ordnungen kaum eine Rolle spielt.
In den nächsten beiden Aufsätzen wird die Redefreiheit eher ungewöhnlicher Sprecher in den Blick genommen: die von Toten (auf Grabinschriften, die in erster Person verfasst sind) und diejenige der Frauen. Mit ersterer befasst sich E. Casey ("Binding Speeches: Giving Voice to Deadly Thoughts in Greek Epitaphs", 63-90). Er macht hier einen reziproken Dialog zwischen den Verstorbenen und ihren lebenden Verwandten aus. H. Roisman widmet sich weiblicher Redefreiheit in der griechischen Tragödie ("Women's Free Speech in Greek Tragedy', 91-114). Sie zeigt auf, wie weibliche parrhesia von den Dichtern als 'Waffe' gegen despotische Herrscher eingesetzt wurde, welche die Rechte der oikoi und der Religion unverhältnismäßig zu beschneiden suchten.
Die zwei folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der Möglichkeit, im Rahmen der Komödie grundsätzliche Kritik zu üben und dabei auch schlecht über einzelne Angehörige der politischen Elite zu sprechen. S. Halliwell sieht hierin eine für die Demokratie grundsätzlich konstruktive Praxis ("Aischrology, Shame, and Comedy", 115-144), A.H. Sommerstein ("Harassing the Satirist: The Alleged Attempts to Prosecute Aischines", 145-174) vertritt demgegenüber die Position, dass sie von den Zeitgenossen zuweilen als eher destruktiv betrachtet wurde.
E. Greenwood ("Making Words Count: Freedom of Speech and Narrative in Thucydides", 175-195), R.W. Wallace ("The Power to Speak - and not to Listen - in Ancient Athens", 221-232), R.K. Balot ("Free Speech, Courage, and Democratic Deliberation", 233-259) und J. Roisman ("Speaker-Audience Interaction in Athens: A Power Struggle", 261-278) setzen sich sodann mit verschiedenen Aspekten der Interaktion zwischen Rednern und ihrem Publikum auseinander. Greenwood befasst sich mit dem thukydideischen Ideal des Redners, der eingehend über politische Fragen reflektiert und sich nicht scheut, öffentlich Kritik an Bestrebungen des Demos zu üben. Wallace hebt hervor, dass der Lärm (thorybos), den die Bürger in der Versammlung zuweilen gegen den Redner anstimmten, nicht als Missachtung der Redefreiheit, sondern als ein notwendiges Element der Regulierung der Rede verstanden werden sollte. Balot sieht hierin eher einen Versuch des Volkes, seinen Unmut zu artikulieren. Er bewertet die Bedeutung der Redefreiheit für die attischen Demokratie ambivalent: Nützlich scheint sie ihm insofern, als sie sachlich angemessene Entscheidungen ermöglichte, indem viele Gesichtspunkte in den Blick genommen wurden, schädlich in der Hinsicht, dass viele Redner die politischen Debatten lediglich für ihren Wettstreit funktionalisierten. Roisman arbeitet heraus, wie ein Rhetor die Bürger gezielt provozieren konnte, um sie zur Zustimmung zu seinen Vorschlägen zu motivieren.
M. van Raalte ("Socratic Parrhesia and its Afterlife in Plato's Laws", 279-312 ) und J.J. Mulhern ("Parrhesia in Aristotle", 313-339) wenden sich im Anschluss philosophischen Positionen zur parrhesia zu. Van Raalte zeigt, wie Sokrates sich von der sophistischen Rhetorikkonzeption abgrenzt und ihr eine andersartige entgegensetzt, die der Wahrheit verpflichtet sei und nicht dem Volk zu gefallen trachte. Mulhern sucht die These M. Foucaults zu widerlegen, nach der die parrhesia in der Konzeption des Aristoteles allein auf der ethischen Qualität des Einzelnen gründe und keinen Bezug zur Politik aufweise.
Die vier folgenden Aufsätze thematisieren die Frage nach der Redefreiheit im Rom der Republik und der frühen Kaiserzeit: S.G. Chrissanthos, "Freedom of Speech and the Roman Republican Army", 341-367; V. Pagán, "Speaking before Superiors: Orpheus in Vergil and Ovid", 369-389; M.R. Mc Hugh, "Historiography and Freedom of Speech. The Case of Cremutius Cordus", 391-408 und schließlich S.M. Braund, "Libertas or Licentia? Freedom and Criticism in Roman Satire", 409-428. Chrissanthos vertritt - im Unterschied zu Raaflaub - die These, dass es auch im republikanischen Rom Orte gab, an denen sich 'gewöhnliche' Bürger frei äußern konnten und gegebenenfalls sogar Kritik an Vorhaben der politischen Elite übten: in den contiones und zuweilen sogar im Heer. Pagán beschäftigt sich anhand des Orpheusmythos bei Vergil und Ovid mit dem Problem der Freiheit des Redens und Schreibens bei den augusteischen Dichtern. McHugh fragt in der Auseinandersetzung mit Tacitus' Darstellung des Prozesses gegen Cremutius Cordus nach der Freiheit eines Geschichtsschreibers im Prinzipat. Braund schließlich reflektiert die Relation von liberalitas und licentia bei Horaz, Persius und Juvenal. Sie zeigt, wie die römische Satire mit dem Spannungsverhältnis von 'Freiheit' und 'Zügellosigkeit' operierte.
Der Band zeichnet sich durch eine außerordentliche Vielschichtigkeit der Beiträge aus: Er umfasst breit angelegte Studien, wie auch thematisch eng eingegrenzte Spezialuntersuchungen. Neben Aufsätzen, die auf bekannte Ansätze rekurrieren, enthält er auch solche mit ungewöhnlichen Zugangsweisen. Indem die Leitfrage nach den Spezifika der Redefreiheit in antiken Gesellschaften jedoch immer wieder aufgegriffen wird, bleibt der sachliche Zusammenhang stets gewahrt.
Karen Piepenbrink