Marcel Boldorf: Europäische Leinenregionen im Wandel. Institutionelle Weichenstellungen in Schlesien und Irland (1750-1850), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 331 S., ISBN 978-3-412-32705-7, EUR 44,90
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Auch wenn die hohe Zeit der Arbeiten zur regionalen Industrialisierung offenbar vorbei und "Protoindustrialisierung" schon zu einem Begriff der Historiographie-Geschichte geworden zu sein scheint, so haben doch weiterhin Studien zur Koselleckschen "Sattelzeit" zwischen 1750 und 1850 nicht nur ihre Berechtigung, sondern sind durchaus notwendig. Dies gilt zumal für die Wirtschaftsgeschichte, denn die Industrielle Revolution bildete eine tiefgreifende Zäsur und wirkt immer noch nach. Die hier vorgelegte Mannheimer Habilitationsschrift stellt sich durchaus der von Mendels, Kriedte / Medick / Schlumbohm und Pollard begründeten Forschungstradition, die nach den Vorbedingungen dieses Übergangs fragte, benutzt aber vor allem das Instrumentarium der Institutionenökonomik. Zwei Regionen werden miteinander verglichen, die sich höchst unterschiedlich entwickelten. Während die im 18. Jahrhundert führende deutsche Leinenregion Niederschlesien zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu kollabierte, stieg Irland (Ulster) zur Nr. 1 dieser Branche weltweit auf. Wie lässt sich die unterschiedliche Entwicklung erklären? Welche Faktoren hemmten Schlesien und förderten Irland?
Das Material für beide Regionen ist höchst ungleich verteilt. Während die preußischen Zentral- und die schlesischen Provinzial- und Stadtarchive nicht schlecht bestückt sind, fielen die Akten im Irischen Public Record Office 1922 einem Anschlag zum Opfer. Gedruckte Berichte müssen Ersatz liefern. Das Schwergewicht wird wohl auch deshalb auf Schlesien gelegt.
Das niederschlesische Textilgewerbe entstand in einem Gebiet der Gutsherrschaft und lockerte die feudalen Bande. Auf Leinenmärkten boten Weber ihre Produkte dar. Beherrscht wurde der Einkauf von den Kaufleuten der größeren Städte, die sich nach 1760 zum Gebirgshandelsstand zusammenschlossen und sich dabei wie Zünfte verhielten. Ihre Privilegien erhielten sie vom preußischen Staat, der sie protegierte und damit einen eigenständigen Handel auf dem Lande erschwerte, wenn nicht verhinderte. Zwar fehlten auch in Niederschlesien nicht Ansätze zum Verlagswesen, doch muss in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts das Verlagssystem als gescheitert angesehen werden. Die fortdauernde Existenz der Leinwandschau, einer quasi-zünftigen Einrichtung, blockierte Innovationen, z. B. die Einführung von Damastweberei. Die mangelhafte Anpassungsfähigkeit und das Pochen der niederschlesischen Kaufleute auf ihren Vorrechten führte zu einer "strukturellen Unbeweglichkeit" trotz der Liberalisierung der Wirtschaft in der Reformära nach 1806. Schlesien verlor seine Marktanteile auf den internationalen Märkten und litt unter Deindustrialisierung, die in den 1840er Jahren in der Not der Spinner und Weber kulminierte. Abwanderung und Reagrarisierung prägten Niederschlesien zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Ulsters Textilgewerbe entstand im 17. Jahrhundert und entwickelte sich unabhängig von Zünften der Kaufleute oder Weber. Die lokalen Märkte wurden von den Faktoren englischer Kaufmannshäuser beherrscht, die sich zur Linnen Hall zusammenschlossen. Diese bildete jedoch allenfalls eine lose Gruppierung, keine Zunft. Zugleich waren Verlage zugelassen. Ulster griff technische Neuerungen, vor allem die mechanische Flachsspinnerei, früher auf als Kontinentaleuropa. Die Geschichte der Maschinenspinnereien nach 1800 war zwar von häufigen Bankrotten geprägt, doch stabilisierte sich die neue Technik, zumal die Linnen Hall Neugründungen subventionierte. 1850 setzte Irland mehr Flachsmaschinenspindeln als England und Schottland ein und erlebte einen weiteren Schub bis 1870, so dass das Textilgewerbe Leitsektor für die Industrielle Revolution in Ulster wurde. 1850 waren allerdings noch 80 % aller Beschäftigten in der Heimweberei untergebracht, die Heimspinnerei sank allein zwischen 1840 und 1850 um 400.000 Beschäftigte.
Aus der gegeneinander gestellten Entwicklung von Schlesien und Irland leitete Boldorf Regeln für den Industrialisierungsprozess ab, die er im Schlusskapitel knapp auch für andere europäische Textilregionen testet. Zünftiges Verhalten von staatlich unterstützten Kaufmannschaften wie in Schlesien behindere, so Boldorf, die wirtschaftliche Entwicklung, zumal wenn sie das städtische Umland dominierten. Die enge Symbiose von Zünften und Staat in Preußen wird betont. Differenzierte ländliche Handelsbeziehungen, vor allem die Verbreitung von Kleinverlegern, förderten Innovation und Anpassungsfähigkeit. Schließlich warnt Boldorf davor, von regionaler Industrialisierung zu sprechen, wenn allenfalls einige industrielle Kerne (oder "Splitter") bestehen. Er hat neben Niederschlesien vor allem Flandern vor Augen.
Die Stärke dieses Buches liegt in der Zuspitzung der empirischen Befunde auf solche Regeln, die auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau gewonnen werden. Das Buch ist allerdings eher makro- als mikroökonomisch ausgerichtet. Allenfalls kleinere Fallstudien wie die zu Leinwandsammlern oder zum Heiratsverhalten des Gebirgshandelsstandes vertiefen das ausgebreitete Material. Freilich hätte man sich gelegentlich genauere Untersuchungen zum Verhältnis von Staat und Kaufmannschaft gewünscht. War es wirklich so symbiotisch, wie es Boldorf unterstellt? Aus anderen preußischen Handelsstädten des 18. Jahrhunderts (z. B. Iserlohn) ist eine kritischere Haltung der Kaufleute zum Staat bekannt. Auch erscheint dem Rezensenten die Gleichsetzung von Zünften und Innovationsfeindlichkeit zu pauschal, zumal eben dieser preußische Staat den Zünften am Ende des Ancien Régime sehr kritisch gegenüber stand. Hilfreich und wichtig sind die Verweise auf ländliche Händler und überhaupt auf nicht-städtische Verhältnisse als wichtige Faktoren von wirtschaftlicher Entwicklung im 18. Jahrhundert. Es finden sich hierzu - aber nicht nur zu diesem Punkt - viele Anregungen in Boldorfs Buch, die die Diskussionen über die Anfänge der Industriellen Revolution in Europa bereichern werden.
Wilfried Reininghaus