Gottfried Wilhelm Leibniz: Schriften und Briefe zur Geschichte. Bearbeitet, kommentiert und herausgegeben von Malte-Ludolf Babin und Gerd van den Heuvel (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 218), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2004, 1080 S., ISBN 978-3-7752-6018-3, EUR 62,00
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Um 1700 beschäftigte sich Leibniz mit dem Ursprung und der Geschichte der Herzogtümer in Deutschland und legte in diesem Zusammenhang eine sozialgeschichtlich motivierte knappe Abhandlung zur mittelalterlichen Agrarverfassung vor. Etwa zur gleichen Zeit sandte er einem jungen Akademiker auf dessen Bitte eine kulturhistorische Skizze zum Ursprung von Rittertum und Turnieren, äußerte sich zur Einschränkung adeliger Jagdfreiheit als einer Neuerung der Territorialherrschaft des 16. Jahrhunderts und arbeitete zur Kolonisation Siebenbürgens, zur Etymologie des Sachsennamens sowie zur ethnisch-konfessionellen Gemengelage in Südosteuropa. Hinzu kamen kleinere und größere Studien zu Gegenstand, Geschichte und Methoden der Geschichtswissenschaft, Ausarbeitungen zur antiken Numismatik und zur Archäologie sowie die noch am ehesten bekannten Manuskripte zur Welfengeschichte. Eine intensive Beschäftigung mit historischen Themen aller Epochen und zahlreicher Territorien und Räume lässt sich bei Leibniz auch in anderen Lebensjahrzehnten durchgängig feststellen; ein nennenswerter Teil seiner mehr als 1.100 Korrespondenzpartner tauschte sich mit ihm über historische Themen aus.
Im Kanon der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte kennt man Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) als Autor philosophischer, theologischer und juristischer Schriften, als Mathematiker und Naturwissenschaftler, als politischen Theoretiker und Wissenschaftsorganisator - als Historiker ist er dagegen weitgehend unbeachtet. Ein Blick in historiografiegeschichtliche Abhandlungen, Lexika und Einführungen zur Geschichtswissenschaft lässt rasch erkennen, dass die anlässlich des 300. Geburtstages des Universalgelehrten getroffene Feststellung Werner Conzes, die deutsche Wissenschaft habe nur geringe Kenntnis von der historischen Arbeit des gebürtigen Leipzigers, unverändert gültig ist. Die Ursachen hierfür sind, wie Gerd van den Heuvel in einer instruktiven Einleitung zu der von ihm und Malte-Ludolf Babin herausgegebenen Auswahledition von Leibnizens Schriften und Briefen zur Geschichte erläutert, vielfältig: Die Ausblendung des Historikers Leibniz in der Geschichte der Geschichtsschreibung führt er unter anderem auf die Tatsache zurück, dass sich dessen Stellungnahmen zu Gegenstand und Methoden der Geschichtsschreibung nicht in einer einzelnen zentralen Schrift befänden und überhaupt das wenigste zu Lebzeiten im Druck vorgelegen habe, der Autor in keinem Fach in den universitären Lehrbetrieb eingebunden gewesen sei, gerade der Historismus - dessen wenig vorteilhafte Qualifizierung von Leibnizens historischen Arbeiten das Urteil der Fachwelt bis heute beeinflussen - wenig Verständnis für Problemstellungen und Erkenntnisinteressen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert aufgebracht habe und nicht zuletzt in der monumentalen Edition der Schriften und Briefe (Akademie-Ausgabe) in der für die historischen Schriften vorgesehenen Reihe V bis heute kein einziger Band erschienen sei. Umgekehrt habe die maßlose Überschätzung von Louis Davillé, der Leibniz 1909 in einer fast 800 Seiten umfassenden Darstellung als einen der größten Historiker der Neuzeit und aller Zeiten überhaupt hymnisch feierte, das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht.
Die von Babin und van den Heuvel, langjährigen Mitarbeitern im Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover und erfahrenen Leibniz-Editoren, vorgelegte Auswahl soll nach Auffassung der Herausgeber "einen ausschnitthaften Eindruck von der Breite und Vielfalt historischer Interessen und Fragestellungen bei Leibniz [...] vermitteln, wie sie nicht nur in seinen Schriften, sondern auch in brieflichen Äußerungen zum Ausdruck kommen" (19). Die einzelnen aufgenommenen Texte sollen "einen allgemeinen historischen Standpunkt erkennen lassen, also rein technische Details genealogischer oder chronologischer Art nicht den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung überwuchern" (51). Die Auswahl der 53 Texte ist überzeugend begründet - dass Leibnizens umfangreiche Korrespondenz mit dem italienischen Gelehrten und Geistlichen Ludovico Antonio Muratori und seine Abhandlung über die angebliche Päpstin Johanna im 9. Jahrhundert gar nicht, sein historisches Hauptwerk, die Annales Imperii Occidentis Brunsvicenses, nur in kurzen Proben berücksichtigt werden konnten, ist ebenfalls einsichtig. Präsentiert werden die einzelnen Schriften und Briefe (wo das Textverständnis es erforderte, einschließlich der jeweiligen Gegenstücke der Korrespondenten) in zehn systematischen Kapiteln: Begriff der Geschichte und Gegenstand der Geschichtsforschung; Methoden der Geschichtswissenschaft; Quelleneditionen; Hilfswissenschaften, Organisation der Geschichtsforschung; Geschichte und Jus (publicum); Zwischen Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie; Didaktik der Geschichte und Popularisierung historischer Stoffe; Abhandlungen und Briefe zur Geschichte des Altertums und des Mittelalters; Welfengeschichte. Anders als bei den französischen Texten werden bei den lateinischen Übersetzungen geboten. Die editorische Vorbemerkung, die eigentliche Edition mit ihrer ungemein dichten, präzisen und zuverlässigen zeitlichen wie sachlichen Einordnung der jeweiligen Texte, die Angaben über Anlass, Entstehungsgeschichte und Rezeption der einzelnen Stücke und Nachweise von inhaltlichen Parallelen bzw. ergänzenden Äußerungen in anderen Leibniz-Texten, die nicht minder wichtigen, den Leser mit allen notwendigen Informationen versehenden Sacherläuterungen und schließlich die mehr als 150 Seiten umfassenden Verzeichnisse - all das ist Ausdruck stupender Gelehrsamkeit, Sachkenntnis und Sorgfalt.
Die Auswahledition von Babin und van den Heuvel wird für Jahrzehnte die maßgebliche Quellengrundlage aller Forscher sein, die sich für Leibniz als Historiker interessieren. Sie liefert darüber hinaus mit ihrer auf hohem Niveau argumentierenden Einleitung einen hervorragenden Einstieg in die Historiografiegeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Hier wird nicht nur umfassend Leibnizens Wissenschafts-, Geschichts- und Quellenbegriff erörtert, hier wird - aus einer langjährigen Vertrautheit mit dem Leibniz-Nachlass und der nicht gerade spärlichen Fachliteratur über den Universalgelehrten heraus - geradezu ein Forschungsprogramm entworfen. Ein solch grundlegendes Werk wäre freilich, dies soll abschließend nur in einer Randbemerkung erwähnt werden, ohne die unterdessen Generationen währende Arbeit an der Gesamtausgabe von Leibnizens Schriften und Briefen nicht zu realisieren gewesen. Die Alternative hier gelderverschlingendes, unkalkulierbares Langzeitprojekt, dort kostengünstige und rasch zu präsentierende Auswahledition, die pfiffige Finanzstrategen ins Feld zu führen drohen, stellt sich bei Lichte besehen nicht. Die von ihnen getroffene Auswahl Leibniz'scher Arbeiten zur Geschichte, schreiben die Herausgeber selbst völlig zu Recht, "will und kann eine künftige vollständige historisch-kritische Präsentation von Leibniz' historischen Werken im Rahmen der Akademie-Ausgabe nicht ersetzen" (19).
Joachim Bahlcke