Stefan Bartilla: Die Wildnis: visuelle Neugier in der Landschaftsmalerei:. Eine ikonologische Untersuchung der niederländischen Berg- und Waldlandschaften und ihres Naturbegriffes um 1600. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/1893/ (= Freiburger Dissertationsreihe; 6), Freiburg: Universitätsbibliothek Freiburg 2005
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Die online und mittlerweile auch im Druck vorliegende Forschungsarbeit von Stefan Bartilla schließt die Lücke zwischen der frühen südniederländischen Landschaftsdarstellung des 15. Jahrhunderts bis hin zu Bosch und Patinir und besonders dem entscheidenden Entwicklungsschritt bei Pieter Bruegel [1] einerseits und einer eigenständigen, stark ausdifferenzierten Gattung Landschaft im 17. Jahrhundert [2] andererseits. Um 1600 erscheint "erstmals die Wildnis als eigenständiges Thema der Landschaftsmalerei" und nimmt in ihrer Ausformung als Berg- oder Waldlandschaft sogar eine zentrale Position in dieser Gattung ein.
Im nicht gerade übersichtlichen Titel werden bereits der Ansatz und die Methodik des Unternehmens deutlich, nämlich geistes- und ideengeschichtliche Aspekte mit den motivgeschichtlichen zu verbinden. Diese Komplexität kann die systematische Gliederung der Dissertation in drei Teile, nämlich in einen entwicklungsgeschichtlichen, einen geistes- und kulturhistorischen sowie einen ikonografisch-ikonologischen Teil, zumindest in den Grundzügen überschaubar halten. Zugleich sollen Kunst und Künstler dieser Zeit in ihrer Eigenständigkeit erfasst und gewürdigt werden (11).
Der erste Teil zeichnet zunächst die Entwicklung der Wald- bzw. Berglandschaft als Bildthema nach und benennt seine Protagonisten. Sowohl die Wald- wie auch die Berglandschaft wurden wesentlich durch die Zeichnungen Pieter Bruegel d.Ä., teils durch Hieronymus Cock als Stiche verlegt, angestoßen und von seinem Sohn Jan weitergetragen (20). In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts wird die Wechselwirkung mit Italien (Rom) bedeutend. Über den in Rom verweilenden Paul Bril erreicht das Bildthema Gillis van Coninxloo, der es zu einem künstlerischen Höhepunkt führt. Ihm folgen Maler, wie Vinckboons, Hondecoeter, später Savery und Jacob van Geel. Auch die Entstehung des Genres Berglandschaft verdankt Pieter Bruegel d.Ä. viel. Auch hier führen Maler in den nördlichen und südlichen Niederlanden das Thema individuell fort. Nicht zu vergessen ist die Prager Schule mit Savery und anderen. [3]
Im Folgenden gelangt Bartilla zum Kern des bereits angesprochenen ersten Teils, der mit dem Titel "Landschaftsmalerei als Naturnachahmung" überschrieben ist, und untersucht anhand einiger Maler die Bedeutung der "Studien nach dem Leben" (36 ff.) um 1600. Doch machen die Zeichnungen vor der natürlichen Landschaft nur eine Komponente der Genese der Landschaftsdarstellung aus und dienen vor allem dazu, das Charakteristische und Vielfältige dieses Bereichs der Natur bzw. Schöpfung zu erfassen. Eine allzu naturalistische Ausrichtung der Landschaftsmalerei wird durch das zeitgleiche Interesse an "Phantastik und bizarren Formen" (39 ff.), die sich schon seit etwa 1500 in den Niederlanden und Italien aufzeigen lassen, widerlegt.
Als Zweites folgt der kulturhistorische Teil unter dem Titel "Wertschätzung von Wäldern und Bergen im 16. Jahrhundert". Diese Wertschätzung kennzeichnet Bartilla als Erscheinung der Frühen Neuzeit gegenüber einem religiösen, jenseitsorientierten Mittelalter. Doch kann dieses sich in der Zeit entwickelnde positivere Naturverständnis nur anhand der Literatur belegt werden, wobei sich fragt, ob dieses Naturverständnis tatsächlich neu ist, also dem Menschen des Mittelalters an sich wesensfremd war, oder ob es eben nun erst in der Produktion einer Literatur fassbar wird, die dieses Thema eben vorher nicht darstellte. Einen Gegensatz zwischen Mittelalter und Renaissance bzw. Neuzeit oder zwischen religiösem und humanistischem Denken als Grundlage anzunehmen, erscheint nur sehr bedingt im Fortgang der Untersuchung für annehmbar bzw. förderlich. Schließlich sind religiös motivierte Vorstellungen, wie das Leben als Pilgerreise oder das Lob der Schöpfung, wichtige Komponenten der Landschaftsdarstellung bzw. der Beschäftigung mit der natürlichen Landschaft. Während der Wald als eine Art Naherholungsgebiet für die Städter an Bedeutung gewinnt, werden die Berge Ziel wissenschaftlicher Neugier und fordern Forscher z. B. zu Theorien ihrer Entstehung heraus.
Als dritter Teil schließt das Thema "Staffagethemen der Wildnis" die Untersuchung ab. Nach einer knappen theoretischen Hinführung zum Aspekt Staffage werden die um 1600 in der Landschaftsmalerei gängigen Themen und Figuren dargestellt und mit Beispielen aus Literatur und Bildkunst untermauert. Zu ihnen gehören Waldarbeiter, Jäger und Jagdszenen, Lustgärten, der Reisende als Betrachter, die öde oder menschenleere Landschaft, Räuber sowie Zeichner in der Wildnis. Somit entsteht ein umfassendes Kompendium, das nicht nur für die Zeit um 1600 relevant sein dürfte.
Zu Recht weist der Autor auf die oft moralische Intention der Bildmotive hin, relativiert sie jedoch. Die moralische Intention steht nicht im Gegensatz zum Aspekt der visuellen Neugier, die ja nicht nur dem Genuss dient, sondern auch dem Entdecken von Gefahren in der Wildnis oder dem Erkennen der Größe der Schöpfung (193). Schließlich gilt es noch immer, wie im Mittelalter, im "Buch der Natur" zu lesen. Hiermit gelingt Bartilla eine Verbindung von einstmals gegenüberstehenden Ansätzen wie sie die Kontrahenten Alpers und Miedema vertraten (vgl. 11).
Die "Ästhetik der visuellen Neugier" (192f.) kommt etwas kurz und wird eher als Klammer in der Einleitung und im letzten Unterkapitel benutzt, als dass diese Formel im Text angewendet und entwickelt wird. Dafür müsste auch der zeitgenössische Rezipient intensiver und differenzierter einbezogen und behandelt werden. Dennoch erscheint die "visuelle Neugier" als roter Faden immer wieder auf (z. B. 105 ff.).
Der Versuch eines komplexen Ansatzes [4] wird der Sache insgesamt gerecht, auch wenn die einzelnen Aspekte teilweise etwas aufzählend und aneinandergereiht wirken (etwa im ikonografischen Teil). Das Positive daran ist jedoch wiederum, dass man eine Art Nachschlagewerk über die wichtigen Aspekte der Landschaftsmalerei nicht nur um 1600 zur Verfügung hat - neben der ikonografischen Motivik z. B. zu den Begriffen "Landschaft" (45 ff.), "Natur" (50 ff.) oder "Lob der Schöpfung" (53 ff.) -, und dass diese Arbeit trotzdem recht gut lesbar bleibt.
Nicht zu vergessen ist der umfangreiche Abbildungsteil mit 90 relativ guten Schwarz-Weiß-Reproduktionen von Stichen und vor allem Gemälden, der einen guten Ein- und Überblick in die Bildproduktion der Berg- und Waldlandschaften um 1600 vermittelt und auch Möglichkeiten des Vergleichs eröffnet und sicher noch viele Details entdecken lässt, die im Text wegen der eher kursorischen Analyse der Bilder unberücksichtigt bleiben mussten.
Anmerkungen:
[1] Nils Büttner: Erfindung der Landschaft: Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels, Göttingen 1996.
[2] Nils Büttner: Geschichte der Landschaftsmalerei, München 2006.
[3] Böhmen liegt am Meer: Die Erfindung der Landschaft um 1600, von Thomas Ketelsen mit einem Beitrag von Stefan Bartilla, hrsg. von Uwe M. Schneede, Hamburger Kunsthalle 1999.
[4] Im Gegensatz zur Reduktion auf Religiöses bzw. das Schöpferlob bei: Oudewijn Bakker: Landschap en Wereldbeeld, Bussum: Uitgeverij Thoth 2004. - Dazu siehe: Nils Büttner: Rezension von: Boudewijn Bakker: Landschap en Wereldbeeld, Bussum: Uitgeverij Thoth 2004, in sehepunkte 6 (2006), Nr. 6, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/06/7416.html.
Stefan Fischer