Anne-Marie Neser: Luthers Wohnhaus in Wittenberg. Denkmalpolitik im Spiegel der Quellen (= Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt; 10), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005, 364 S., ISBN 978-3-374-02280-9, EUR 44,00
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Die Erforschung der Lutherrezeption in der Moderne hat in jüngster Zeit neuen Schwung bekommen. Das liegt nicht allein, aber doch in hohem Maße am historiografischen Engagement der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Als 2003 nach Sanierung und Umbau die neue Dauerausstellung im Wittenberger Lutherhaus eröffnet wurde, hatte man auf einem halben Stockwerk Exponate zur Wirkungsgeschichte des Reformators zusammengestellt, flankiert durch einen höchst aufschlussreichen Katalog, "Luthers Bild und Lutherbilder". Daneben wurde nun erstmals ausführlich die Geschichte des Lutherhauses an Ort und Stelle selbst thematisiert und gleichfalls in Katalogform als "bauhistorischer Rundgang" publiziert. Die größerformatigen Wissenschaftsreihen der Stiftung hingegen, seltsamerweise unterschieden in "Kataloge" und "Schriften", können mittlerweile fast als publizistische Heimat neuerer Forschungen zu Rezeption und Popularisierung Martin Luthers angesehen werden. Erinnert sei an den von Stefan Laube und Karl-Heinz Fix herausgegebenen Band "Lutherinszenierung und Reformationserinnerung" ("Schriften" 2), an Laubes Monografie "Das Lutherhaus Wittenberg. Eine Museumsgeschichte" ("Schriften" 3) oder an Otto Kammers akribische Bestandsaufnahme der "Reformationsdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts" ("Kataloge" 9).
Als zehnten Band der "Kataloge" hat jetzt die Berliner Architekturhistorikerin Anne-Marie Neser ihre Dissertation "Luthers Wohnhaus in Wittenberg. Denkmalpolitik im Spiegel der Quellen" vorgelegt. Welche Quellen konnten hier noch Neues bieten? Umfangreiche, bislang unpublizierte und von der Forschung weitgehend übergangene Archivbestände "in Berlin, Dresden, Halle, Magdeburg, Merseburg, Weimar, Werningerode und Wittenberg" (16) wurden für dieses Unternehmen erstmals gesichtet und ausgewertet, zum Teil auch mustergültig im Anhang ediert (312-359). Ihre ausgesprochen intensive Verwendung ist nicht nur methodisch geglückt, sondern - das sei ausdrücklich gesagt - auch in sprachlicher Hinsicht. Der kulturgeschichtlichen Ausrichtung der Studie lag die Überzeugung zu Grunde, dass hier "Architektur weniger als Form denn als Handlungsrahmen der Menschen in der Vergangenheit interessiert" (17).
In der "Lebensbeschreibung eines Gebäudes" (19-67) wird zunächst die Bau- und Nutzungsgeschichte des Wittenberger Augustinerklosters und Luthers späteren Wohnhauses nachgezeichnet - von der Ansiedlung Erfurter Augustiner-Eremiten im Jahre 1504 und deren Bautätigkeit bis zur 1817 erfolgten Auflösung der Universität, für deren Betrieb die Gebäude seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert sukzessive um- und ausgebaut worden waren. 1508 war der Augustinermönch Martin Luther angekommen, dessen reformatorisches "Turmerlebnis" hier trotz neuer archäologischer Funde glücklicherweise mit der gebotenen Zurückhaltung behandelt wird. Bekanntlich überließ Kurfürst Friedrich der Weise ihm 1524 das Gebäude zur weiteren Nutzung, nachdem in der Frühphase der Reformation bereits zahlreiche Ordensleute hier und andernorts ihre Konvente verlassen hatten. Ab 1534 baute die Familie das Klosterhaus zu Wohnzwecken um. Dazu gehörte jene "ober stube vnd kamer" (45), die noch heute als "Lutherstube" bekannt ist und schon früh zu einer Gedächtnisstätte des Reformators wurde. Gegen Mitte des 17. Jahrhunderts bereits galt das Zimmer als "Museum Lutheri" (71).
Hier setzt die denkmalgeschichtliche Untersuchung im engeren Sinne an: Paradoxerweise war das Klosterhaus als Universitätsgebäude, als "Hinterhaus des Collegium Augusteums" (69), ständig wechselnden Nutzungsvarianten unterworfen, ungetrübt von konservatorischen Bedenken späterer Zeiten, doch "für den Fortbestand des Hauses, vor allem aber für die Restaurierung im 19. Jahrhundert, kam der Lutherschen Wohnstube als 'Nukleus' eine wichtige Bedeutung zu [...]. Während das restliche Gebäude der Universitätsnutzung angepasst worden war, eroberte sich der Ort der Tischgespräche einen Platz im kollektiven Bildungsgedächtnis" (70). Der steigenden touristischen Attraktivität dieses einen Raums lief jedoch der desolate Zustand des Gesamtbaus zuwider. Als Wittenberg 1815 an Preußen gekommen war, war es kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel, der mit Blick auf die Lutherstube die nationale Bedeutung solcher Denkmäler hervorhob und speziell dieses "Heiligtum einer besonderen Beachtung würdig" (80) fand. Der König müsse diesbezüglich "eine für ewige Zeiten gültige Institution" (81) schaffen. Auf Betreiben Gottfried Schadows wurden Untersuchungen zum Originalzustand der Lutherstube angestellt. Am Fall der zahlreichen Kreidegraffitis, die von Besuchern hinterlassen worden waren, wird das Dilemma von Bewahrung und Wiederherstellung im sich gerade erst ausprägenden Denkmalverständnis des frühen 19. Jahrhunderts deutlich. Konkrete Sanierungspläne billigte König Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1826.
Im Kapitel "Lutherstube, Getreidespeicher, Lutherhaus" (103-127) zeichnet Neser nun die schrittweise Ausweitung der Sanierungsbemühungen auf das ganze Bauwerk nach. Als 1841 die Sanierung des Lutherhauses in Angriff genommen wurde, erwiesen sich die Bauschäden als so gravierend, dass man von einer geplanten Nutzung als Getreidespeicher absah. Ganz im Sinne der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms IV. betrieb dessen Kultusminister Johann Albrecht Eichhorn jetzt vielmehr die gründliche Umgestaltung des Klostergebäudes als Stipendiatenhaus des Predigerseminars, sodass mit der neuen Nutzung zugleich der reformatorische Charakter der Gedenkstätte gestärkt werden konnte. Die Planung übertrug Eichhorn dem "Architekten des Königs" (117), Friedrich August Stüler, der indes nicht bereit war, an dieser bedeutsamen Stelle zu sparen. Um den König dennoch zur Finanzierung des Projekts zu bewegen, argumentierte Eichhorn eindringlich mit dessen nationaler Tragweite und machte für eine Förderung besonders konfessionelle Motive stark. Vor dem Hintergrund des just wieder aufgenommenen Dombaus zu Köln als "Denkmal des Katholizismus", so Nesers einleuchtende Folgerung, mochte das Wittenberger Bauvorhaben in der öffentlichen Wahrnehmung jetzt "ein Gegengewicht bilden" (124). Mit Blick auf Luthers dreihundertsten Todestag im Jahr 1846 wurden die Gelder schließlich genehmigt.
"Das Bauprojekt 1843-1883" (129-258) wird anhand reichen Bild-, Plan- und Textmaterials mit größter Akribie dokumentiert. Der Umgang mit dem Lutherhaus steht exemplarisch für preußische Bau- und Denkmalpolitik. "Die genaue Betrachtung von Planungsablauf und Baugeschehen", so bewertet die Verfasserin selbst den Ertrag des Kapitels, "erlaubte es, die Argumente der Erhaltung und deren politische Rechtfertigung, die Nutzungsdiskussion und den behördlichen Geschäftsverlauf mit seinen Entscheidungsstrukturen nachzuvollziehen" (257). Brüche und Interessenverschiebungen bei der Wahrnehmung des Gebäudes als "Denkmal" korrelieren mit dem Wechsel kulturgeschichtlicher Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert. Das Baudenkmal kann mithin zur historischen Quelle eigener Qualität werden. Vielleicht hätte der zeitspezifische Zeichencharakter der Architektur noch stärker herausgearbeitet werden können. So hatte z.B. die im frühen 20. Jahrhundert (und übrigens besonders im Nationalsozialismus) gängige Kritik an der 'historistischen' Restaurierungspraxis des 19. Jahrhunderts nicht allein ästhetische Gründe, sie entsprach vielmehr dem zunehmenden Einfluss 'völkischer' Geschichtsdeutung, wogegen dem Historismus 'Verweichlichung' und 'Stilentartung' bescheinigt wurde. Dennoch macht Nesers Studie deutlich, dass Denkmalpflege immer zeitspezifischen Interpretationsmaximen folgt. Sie ist kein politisch voraussetzungsloses Handwerk. Ausgehend von einer Geschichte des Denkmalbegriffs, ordnet die Verfasserin den Umgang mit dem Wittenberger Lutherhaus daher folgerichtig in den "Kontext der allgemeinen Entwicklung der Denkmalpflege" (259-277) ein.
In einem essayistischen "Schlußwort" (279-291) kommt die Lutherstube selbst zu Wort. Der narrative Ausblick ist so riskant wie originell, denn einen solchen Schritt kann sich nur erlauben, wer zuvor so präzis am Quellenmaterial gearbeitet hat wie hier. Der Essay soll zeigen, "dass zwar ein Kreis geschlossen werden konnte, aber noch viele Fragen offen sind und unbeantwortet bleiben" (280). Mit diesem Buch kann nicht allein gearbeitet, es kann auch mit Gewinn gelesen werden, was ein Unterschied ist. Auch die Ausstattung ist schön. Nur dass die zahlreichen Abbildungen unterschiedslos in einem vereinheitlichenden Sepiaton reproduziert wurden, ist angesichts ihres dezidierten Quellenwertes doch gewöhnungsbedürftig.
Tim Lorentzen