Wolfram Siemann: 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis - Bewältigung - Erinnerung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 272 S., ISBN 978-3-506-75673-2, EUR 19,90
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Ein ähnlich problematisches Genre wie Festschriften sind die üblicherweise zu den 60. Geburtstagen verdienter Wissenschaftler vorgelegten Aufsatzsammlungen, da sie vielfach unter weitschweifigen Titeln thematisch sehr disparate Arbeiten der Jubilare umfassen, deren erneute Publikation ihre mit der Herausgabe betrauten Schüler mit dem Hinweis auf abgelegene erste Druckorte rechtfertigen. In die Kategorie solcher pflichtschuldiger Gelegenheitspublikationen, bei denen mitunter die wissenschaftlichen Wege der Jubilare einen stärkeren Lektüreanreiz bieten als die in ihren Aufsätzen behandelten Themen, gehört die anlässlich des 60. Geburtstags des Münchner Historikers Wolfram Siemann vorgelegte Aufsatzsammlung nicht, deren zwölf Beiträge sich allesamt mit der Revolution von 1848/49 beschäftigten, die seit den Anfängen seiner akademischen Karriere das Hauptforschungsfeld des Jubilars darstellt. Neun der Aufsätze waren bereits in Sammelbänden abgedruckt und zwei in Zeitschriften; bei einem ("Das politische System der Reaktion") handelt es sich um ein Kapitel aus einem Handbuch, das offenkundig ausgewählt wurde, um den Sammelband thematisch abzurunden.
Die Aufsatzsammlung ist in zwei Abschnitte unterteilt: Der erste umfasst sieben Beiträge, die sich unter der Überschrift "Ereignis" mit der Revolution selbst beschäftigen. Den Auftakt bildet hier ein sehr konziser, einem Sammelband über die "Scheidewege deutscher Geschichte" entnommener Gesamtüberblick, der das Verhältnis von Basisrevolution und institutionalisierter Revolution sowie den Zusammenhang von deutscher und europäischer Revolution skizziert, während die folgenden Beiträge zentralen Detailfragen gewidmet sind: Der Aufsatz "Parteibildung 1848/49 als 'Kampf ums Recht'" untersucht die in der im Paulskirchenparlament tonangebenden Casino-Fraktion vorherrschenden politischen Grundanschauungen und leistet einen wichtigen Beitrag zur Bestimmung des Begriffs "Liberalismus" in der Revolution; die beiden folgenden Aufsätze widmen sich mit den von den städtischen und ländlichen Unterschichten ausgehenden sozialen Protestbewegungen sowie dem Adel in der Revolution den Erwartungen und dem Verhalten höchst gegensätzlicher sozialer Gruppen. Drei weitere Beiträge behandeln ebenfalls Themen, die zum Verständnis der Revolution von großer Bedeutung sind: in einem knappen Abriss die Nationalitätenkonflikte, die im Zuge des Nationsbildungsversuchs in der deutschen Revolution aufgeworfen wurden; die in der jüngeren Forschung als wichtiges Charakteristikum der Revolution hervorgehobene Ausweitung der Kommunikationsmittel und -räume; schließlich die Versammlungsdemokratie als eine der wesentlichen 1848/49 erprobten politischen Aktionsformen.
Der zweite, fünf Beiträge umfassende Abschnitt ist der Bewältigung der Revolution und der Erinnerung an 1848/49 gewidmet. Am Anfang steht hier ein Aufsatz über Asyl, Exil und Emigration der 1848er, der einen Überblick über die Motive der Exilanten und Emigranten, Deutschland zu verlassen, sowie den Umgang mit den Flüchtlingen in den Aufnahmeländern Frankreich, Belgien, Schweiz, England und USA gibt. Der folgende Beitrag beleuchtet die fortdauernde Aufstandsfurcht der deutschen Regierungen in der nachrevolutionären Epoche am Beispiel der Reaktionen auf das Attentat Felice Orsinis auf den französischen Kaiser Napoleon III., das zu hektischen Bemühungen verschiedener deutscher Polizeibehörden führte, die Hintergründe eines vermeintlichen Aufenthalts des berüchtigten italienischen Berufsrevolutionärs Giuseppe Mazzini in Württemberg zu ermitteln. Die übrigen Aufsätze sind dagegen thematisch breiter angelegt und behandeln: die nachrevolutionäre Pressegesetzgebung, die im Gegensatz zu der Zensurpraxis vor 1848 eine nur mittelbare, aber nichtsdestotrotz vor allem wegen finanzieller Strafmaßnahmen effektive Kontrolle der politischen Presse ermöglichte; in einem Überblick über die preußische Unionspolitik, die Wiederherstellung des Bundestags und die Kooperation der Einzelstaaten auf dem Feld der inneren Sicherheit die "Reaktion" als politisches System; schließlich in sehr konziser Darstellung die Erinnerungsorte zu 1848 sowie die verschiedenen Deutungen der Revolution in ihren politischen Kontexten vom Kaiserreich bis zur Gegenwart.
Zwar ergibt die Summe der Beiträge keine Gesamtdarstellung der Revolution; die Aufsätze sind jedoch thematisch so breit gefasst und zudem so geschickt ausgewählt und gereiht, dass auch Leserinnen und Leser, die mit der Revolution nicht gut vertraut sind, den Band mit Gewinn zur Hand nehmen können. Neben Siemanns Fähigkeit zur prägnanten Darstellung vielschichtiger Sachverhalte liegt ein weiterer Lektüreanreiz darin, dass sich anhand der Beiträge nachvollziehen lässt, wie sich in der vergangenen drei Jahrzehnten - unter maßgeblicher Mitwirkung des Jubilars - die Interessen der Revolutionshistoriografie verlagert haben: von der institutionalisierten Revolution und den Vorgängen in den Parlamenten in den 1970er-Jahren über die Basisrevolution der sozialen Protestbewegungen in den 1980er-Jahren zur in der jüngsten Forschung durch die Berücksichtigung internationaler Zusammenhänge und unterschiedlicher Wahrnehmungen der Zeitgenossen hervorgehobenen Komplexität der Revolution.
Frank Engehausen