Thomas Stockinger: Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise), München: Oldenbourg 2012, XI + 930 S., ISBN 978-3-486-71275-9, EUR 98,00
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Zu den geläufigen und ganz offenkundig plausiblen, wenngleich schwierig zu untermauernden Thesen zur Revolution von 1848 zählt die Annahme, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur Politisierung breiter Bevölkerungsschichten geleistet habe. Diese Annahme mit Fakten zu fundieren, hat sich Stockinger mit seiner voluminösen Wiener Dissertation zum Ziel gesetzt, die mit staunenswerter Gründlichkeit die Wahlen zu den konstituierenden Versammlungen in Österreich und in Frankreich von 1848 am Beispiel zweier ländlicher Räume untersucht: in Niederösterreich und in dem vor allem das westliche und nördliche Umland von Paris umfassenden Département Seine-et-Oise. Dass Stockinger dabei sehr weit ausgreift, ist den auf ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse zielenden Leitfragen geschuldet, die er in der Einleitung (6-9) formuliert: Unter welchen langfristigen Rahmenbedingungen - politischen und anderen - fanden die Wahlen statt; in welchem unmittelbaren politischen Kontext standen sie; welche Wahlmodelle wurden angeboten und welchen tatsächlichen Gebrauch machten die Wähler von den Modellen; inwiefern schließlich taugen die untersuchten Wahlen zur Überprüfung der Einschätzung, das Jahr 1848 sei eine markante Zäsur gewesen?
In genretypischer Manier und nicht ganz ohne Weitschweifigkeiten legt Stockinger mit Ausführungen zum "Vergleich in der Geschichtswissenschaft" und zum Konzept der "Politisierung" der Landbevölkerung zunächst die theoretischen Grundlagen und Ausgangspunkte seiner Arbeit dar, bevor er in zwei Großkapiteln die langfristigen Rahmenbedingungen in den Blick nimmt: die sozioökonomischen sowie die "mentalen und kulturellen Voraussetzungen", worunter er recht disparate Themen wie Verkehrswesen und Kommunikation, Schulwesen, Religiosität, aber auch den für das Gesamtbild zentralen Aspekt der Funktionsweise der vorrevolutionären politischen Systeme subsumiert. Erst an diesem letzten Punkt wird in der Darstellung systematisch zwischen dem österreichischen und dem französischen Beispiel getrennt, die in wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Perspektive beträchtliche Gemeinsamkeiten besaßen, in ihren politischen Beziehungsgeflechten jedoch markante Unterschiede aufwiesen. Separate Darstellungen der Ereignisse auf den beiden Schauplätzen bringt dann auch das nächste Großkapitel "Revolutionen und ländlicher Raum", das die jeweiligen Vorgeschichten der Wahlen untersucht. Dass die Anfangsphase der Revolution in Seine-et-Oise durch einen höheren Politisierungsgrad gekennzeichnet gewesen sei als in Niederösterreich, wie die verbreitete Einschätzung suggeriert, die Revolution im ländlichen Österreich sei primär durch Sozialproteste geprägt gewesen, will Stockinger im Fazit dieses Abschnitts seiner Arbeit (351-362 "Hie politische, da soziale Revolution") nicht unterstreichen, sondern betont stattdessen die politische Dimension auch der dortigen Ereignisse.
Erst ab Seite 363 nimmt Stockinger den eigentlichen Untersuchungsgegenstand - die Wahlen zu den konstituierenden Versammlungen, die in Seine-et-Oise im April 1848 und in Niederösterreich zwei Monate später stattfanden - in den Blick. Er versucht dabei, den eingangs skizzierten Leitfragen folgend, zu unterscheiden zwischen der intentionalen Perspektive, die in dem sechsten Kapitel (rechtliche Grundlagen und administrative Vorbereitung der Wahlen; Wahlinformation und Wahlwerbung) überwiegt, und den Aspekten der Praxis des Wählens (Wahlberechtigung und Wahlbeteiligung; Ablauf der Abstimmungen; Wähler, Gewählte und Wahlmotive), die im siebten Kapitel gebündelt werden. Die vergleichsweise günstige Quellenlage - im niederösterreichischen Fall sind die Akten der Wahlen vom Juni im Gegensatz zu jenen der Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung, die wenige Wochen zuvor stattgefunden hatten, in großem Umfang überliefert - erlaubt es Stockinger, die Wahlvorgänge minutiös zu rekonstruieren.
Ob dies vielleicht sogar auf zu breitem Raume geschehen ist, mag ein Leser, der den detailgenauen Nachvollzug von Jagd- und Sammelexpeditionen schätzt, anders bewerten als ein Leser, der nur die Hauptbeute betrachten will. Letzterem bietet Stockinger ein ausgewogen argumentierendes, wenngleich seinerseits vielleicht etwas zu knapp geratenes Schlusskapitel, das insgesamt die Gemeinsamkeiten der beiden Fälle stärker hervorhebt als die Unterschiede. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Ausgangskonstellationen doch erheblich variierten: Während die französischen Wahlen eine provisorische Regierung anberaumte, um Zustimmung zu einem republikanischen Herrschaftsmodell zu generieren, ging es in Österreich nach dem Willen der Regierung darum, den Übergang zu einem konstitutionell-monarchischen System zu moderieren. Dies sollte ebenso wenig aus dem Blick geraten wie die Nachgeschichten der Wahlen von 1848 - in Österreich blieben sie bis zum Ende des Neoabsolutismus ein singuläres Ereignis -, die so verschieden waren, dass eine klare Antwort auf Stockingers Leitfrage nach dem Zäsurcharakter von 1848 in diesem Vergleichskontext kaum möglich ist.
Frank Engehausen