Rezension über:

Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2017, 656 S., 70 s/w-Abb., ISBN 978-3-86854-313-1, EUR 42,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Hartwin Spenkuch
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Hartwin Spenkuch: Rezension von: Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg: Hamburger Edition 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/05/31290.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Hedwig Richter: Moderne Wahlen

Textgröße: A A A

Der Mitbetreuer dieser ambitionierten Greifswalder Habilitationsschrift attestiert der Autorin laut Verlagswerbung, "eine bahnbrechende Leistung in der Wahlrechtsforschung" vorgelegt zu haben und die Besprechung in der "Süddeutschen Zeitung" hält den gewichtigen Band für ebenso bravourös wie lehrreich. Der Rezensent sieht das Werk, das Argumentationslinien der Habilitationsschrift des Mitbetreuers aufnimmt, aber überspitzt, viel kritischer, denn die Analyse erscheint ihm verkürzt sowie von Widersprüchen und relevanten Sachfehlern durchzogen. [1]

Hedwig Richter formuliert eingangs ihrer kulturhistorisch akzentuierten Untersuchung der Praxis der Wahlen in Preußen und den USA drei Thesen: Erstens seien Wahlen zunächst meist von oben oktroyiert, kaum von unten eingefordert worden; zweitens sei Massenpartizipation nicht durch normative Dynamik, etwa einen Freiheitskampf, gefördert worden, sondern durch sozialstrukturelle Bedingungen; drittens habe es aufgrund spezifischer Ideen und säkularer Prozesse eine relativ parallele Entwicklung in Preußen und den USA gegeben (10f.). Sie liefere allerdings keinen "strengen historischen Vergleich im orthodoxen Sinne", sondern durch einen "weit schweifenden Blick eine Vielfalt an Erkenntnissen" (12). Wer die Forschungslandschaft etwas kennt und die historische Wissenschaft durch Konsistenz und begriffliche Präzision charakterisiert sieht, staunt, zumal schon im Titel die Geschichte der Demokratie auf die Wahlpraxis reduziert wird. Zur Demokratie gehören aber etwa auch Verfassungssystem und Parlamentsmacht, Rechtsstaat und einklagbare Bürgerrechte, Minderheitenschutz und Pressefreiheit.

In fünf Kapiteln von je rund 100 Seiten werden die Reformzeit nach 1800, die Jahre bis 1848, Einführung und Rezeption des Dreiklassenwahlrechts ab 1849, die Etablierung des gleichen Reichstagswahlrechts durch Bismarck 1867 und des universal suffrage durch den Kongress im Gefolge des amerikanischen Bürgerkriegs 1870 sowie Wahlrechtsfragen vor dem Ersten Weltkrieg behandelt. Die weitere Untergliederung in je sieben Abschnitte ist nicht immer chronologisch trennscharf und die Analyse nicht konzise an einem Ort, sodass die Studie streckenweise in mancherlei Geschichten zerfasert. Schon daraus entstehen Widersprüche in Aussagen. So galt die geringe Bedeutung von Wahlen im Leben der US-Amerikaner nur für die Frühzeit, während später jahrzehntelang hohe Politisierung herrschte (180f., 268).

In diversen Hauptpunkten gibt Richter den Tenor der Forschung wieder: Die klassisch-liberale Vorstellung vom Wähler als nicht besitzlosem Mann und der Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht bis 1918 aufgrund der ideologischen Verknüpfung mit Männlichkeit; den Wahlrechtsentzug für Afroamerikaner durch rassistisch motivierte suffrage laws zumal in amerikanischen Südstaaten ungeachtet des 15. Amendments; regierungsseitige Wahlmanipulationen in Preußen und vergleichsweise deutlich höhere Gewaltträchtigkeit von Wahlen und Alltag in den USA; die Nutzung des Wahlrechts in Europa durch Liberale gegen katholische und (sozial-)demokratische Konkurrenten; die anschwellende Forderung nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht in europäischen Ländern und dessen Vormarsch nach 1900; die Bedeutung eines Wohlstandssockels (102, 561) als wesentliche Voraussetzung für funktionierende Demokratien.

In anderen Punkten bekämpft Richter Strohpuppen: Wer etwa glaubt, dass der repräsentative Parlamentarismus der direkten Herrschaft jedes einzelnen Staatsbürgers gleichkommt? Dass die USA im 19. Jahrhundert nicht als Demokratie im heutigen Sinne gelten können, sondern allenfalls im synchronen Vergleich frühzeitig demokratisiert waren, meint die einschlägige Forschung seit Jahrzehnten. Wie Wahlen seit Napoleon III. und bis zur DDR-Volkskammer regierungsseitig als Schein-Plebiszite ohne Auswahlmöglichkeit inszeniert wurden, ist weithin bekannt. Eine Forschungslücke bezüglich der amtlichen Wahlbeeinflussung 1850 bis 1863 in Preußen (351, 356) besteht wegen mehrerer Arbeiten nicht wirklich. [2] Der angeblich wenig beachtete Widerstreit zwischen Einzelstaaten und Zentralstaat bei Wahlen (399) ist ebenso bekannt wie ein generelles Kennzeichen US-amerikanischer Politikgeschichte, teils bis heute.

Die drei lauttönenden Thesen Richters, wiewohl im Fazit am Buchende partiell relativiert, überzeugen nicht, weil ihnen Verkürzungen realhistorischer Zusammenhänge zugrunde liegen. Zwar wurden Wahlen formal von Regierungen von oben eingeführt, aber doch vor dem Hintergrund populärer oder revolutionärer Bewegungen bzw. der Kriege 1776-1815 und als Konkretisierung der Ideen von Aufklärung, bürgerlicher Rechtsgleichheit und Nation. Deshalb entstand in Spanien das gleiche, indirekte Wahlrecht gemäß der Verfassung von Cádiz 1812; deshalb führten nach dem Zusammenbruch Altpreußens 1807 die Reformer mit der Städteordnung 1808 ein fast allgemeines, gleiches Männerwahlrecht in Kommunen ein. Die an friderizianische staatliche Gängelung gewohnten Stadtbürger beteiligten sich, entgegen Richters Insinuation (41f., 53, 146), mit fast 80% in Berlin ab 1809, und die Beteiligung blieb auch danach mit über 60% beachtlich. Gerade wegen starker Teilnahme der einfachen Leute baute das Restaurationsregime in Novellen zur Städteordnung ab 1831 restriktivere Wahlqualifikationen ein, und mit dem Dreiklassenwahlrecht sank die Beteiligung nach 1849 unter 20% - Wahlabstinenz war gutenteils stiller politischer Protest der Deklassierten. [3]

Die zweite These, Massenpartizipation sei primär durch sozialstrukturelle Bedingungen und im Konkurrenzkampf von Parteien entstanden, folgt gleichfalls einer eigenartigen Wahrnehmung. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Wahlrechtsforderungen kaum je monolithisch, sondern fast immer im Rahmen des Drängens nach Verfassung oder Verfassungsumbau laut wurden. Dies trifft auf deutsche Liberale bzw. Demokraten und englische Chartisten bis 1848/49, russische Revolutionäre von 1905 oder Nationalitäten in Österreich 1907 zu. [4] Breite Bewegungen von Hunderttausenden reklamierten mehr Partizipation, ja Systemveränderung. Dieser Kontext ist jedenfalls seit der Epochenschwelle 1848 regelmäßig erkennbar. Taktik mochte eine Rolle spielen, etwa Bismarcks antiliberales Kalkül 1867 bei der Einführung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts zum Reichstag. Aber er folgte dem Wahlmodus von 1848 und band zugleich die deutsche Nationalbewegung an Preußen als Vormacht in Bund bzw. Reich. Der Rezensent hält es für historisch schief, wenn Richter implizit mitglieder- oder wählerstarke Parteien als volksferne Elite-Gruppen begreift und Wahlrechtsausweitungen als bloß taktische Mittel in der Parteienkonkurrenz versteht. Parteiprogrammatik, Parlamentsdebatten und Regierungshandeln entstehen doch nicht im Vakuum, sondern nehmen Impulse aus der Gesellschaft auf.

Richters Darstellung der preußischen Wahlrechtsgeschichte und ihre dritte These, es habe mehr parallele Entwicklungen zwischen Preußen und den USA gegeben denn Unterschiede, wiewohl am Buchende in einer Volte relativiert, erscheint dem Rezensenten als besonders problematisch. Für Preußen liegt mit Thomas Kühnes Monografie längst ein auch die Wahlkultur einbeziehendes Standardwerk vor. Obgleich häufig zitiert, werden dessen zentrale Aussagen von Richter wenig rezipiert. Für sie war (253) das Dreiklassenwahlrecht ab 1849 ein "Versuch, die durch die Moderne hervorgerufenen sozialen Spannungen [...] zu lösen", und ist "kaum als erfolglos" zu bewerten. Dass preußische Bürokraten später vielfach über Reformen nachdachten (457) ist ebenso Übertreibung wie die Stilisierung (469f.) eines 1907 im Innenministerium kurzzeitig erwogenen Pluralwahlrechts zur salomonischen Lösung. Es gab 1893 und 1906 zwar winzige Korrekturen bei Abteilungsbildung bzw. Wahlkreiseinteilung, aber alle Kosmetik sollte den Kern unverändert erhalten. [5] Dies wird in den als Belegen angeführten Staatsministerialprotokollen überaus deutlich. In Richters selektiven Belegstellen (373, 376, 378, 390) geht es zuvörderst um die Anleitung der Beamten zur erwünschten prokonservativen Wahlentscheidung und Sanktionierung bei Devianz. In anderen Protokollen wird klar formuliert, dass keine substantiellen Änderungen am Dreiklassensystem in Frage kommen bzw. kompensatorisch das Reichstagswahlrecht zurück revidiert werden müsse. Die Behauptung, Wahlmanipulationen ländlicher Gutsbesitzer hätten "recht wenig Einfluss" ausgeübt, "nicht zuletzt, weil auf dem Lande oft nur wenige Menschen wohnten" (383), verkennt vollkommen, dass in Preußen 1908 gut acht Mio. Landbewohner 161 Landtagsabgeordnete wählten, acht Mio. Städter aber ganze 41. Nur beiläufig wird (371) die massive Ungleichheit der Reichstagswahlkreise konzediert; der Skandal von 10.700 Wählern im kleinsten ländlichen Wahlkreis Schaumburg-Lippe, aber 338.000 im städtischen Bezirk Berlin-Teltow 1912 bleibt unerwähnt. Die jahrzehntelangen Anträge der Volksparteien Zentrum, Freisinn und SPD auf Wahlrechtsreform, von Konservativen wie Regierung stets abgeblockt, bleiben unterbelichtet; das Scheitern der Wahlrechtsnovelle 1910 und der Stillstand bis 1917, von Kühne konzise analysiert, kommen nicht vor. [6] Stattdessen findet sich (465f.) der vage Satz: "Es spricht vieles dafür, dass eine ernsthafte Reform des Dreiklassenwahlrechts unmittelbar bevorstand und der Erste Weltkrieg diese verzögert hat."

Die vorliegende kritisch akzentuierte Forschungsliteratur zu Preußens Rolle im Kaiserreich und seinen Dreiklassenwahlen etwa von Hans-Ulrich Wehler, Hans-Peter Ullmann oder James Retallack wird (28ff., 351) als überholt abgetan, und stattdessen Manfred Rauh, Martin Kirsch und einige modellorientierte US-amerikanische politikwissenschaftliche Arbeiten zu autoritativen Werken erklärt. Der Politologe Daniel Ziblatt wird angemerkt, aber nicht rezipiert; schließlich erklärt er den Großgrundbesitz zur Hauptursache für Wahlmanipulation und betont den unheilvollen Einfluss der Junker auf die politische Entwicklung Preußen-Deutschlands. Mehrfach kommen auch unzulässig verkürzte, ja sinnverfälschende Zitationen vor. So wird bei Isabela Mares' Zitat, Deutschland sei ein Mikrokosmos Europas gewesen, suggeriert, er beziehe sich auf die Normalität des Kaiserreichs (27), wogegen Mares' Satz nur auf "patterns of partisan competition" abhebt, und sie das Verfassungssystem klar als "semicompetitive authoritarian regime" charakterisiert. Dieter Langewiesche betrachtete im Forschungsbericht von 1979 keineswegs Preußen als in erstaunlicher Parallelität zu anderen westlichen Staaten befindlich (314), sondern kritisierte erstens die Bonapartismus-Theorie und wies zweitens die These Manfred Rauhs von der "stillen Parlamentarisierung" nachdrücklich zurück, genau jenes Autors, den Richter durch die neueste Forschung bestätigt sieht (30). Karl Heinrich Pohl wird (267) unzulässig als Beleg angeführt. Zwar sinnierte Pohl 2001, ob ein ungleiches Wahlrecht funktional eine vorläufige Erziehungsmaßnahme auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie sein konnte, aber ihm ging es um die Kommunalpolitik primär Süddeutschlands im Hinblick auf partielle Integration von Unterschicht und Sozialdemokratie durch den dort verbreiteten sozialliberalen Munizipalsozialismus. Das Landtagswahlrecht Preußens und dessen Verfassungssystem waren keineswegs gemeint und Pohl gestand zu, dass wahlrechtliche Exklusionen stets eine schwere Hypothek für eine integrative politische Kultur darstellen. Robert Arsenscheks Schlussfolgerungen bezüglich zunehmend wirkungsloser Mandatsprüfungen durch den Reichstag und insgesamt weniger Mandatsaberkennungen - bloß ca. 90 aufgrund 974 eingeleiteter Verfahren zu 5150 Wahlvorgängen - werden (376) auf die Kassierung beinahe jedes zehnten angefochtenen Mandats reduziert. [7] Richters Ansatz ist ferner dadurch verkürzt, dass die Arena des Parlaments und der Gesetzgebung keine Rolle spielt. Hier würde sich erweisen, wie wenig fortschrittlich-integrativ das konservativ dominierte Dreiklassenparlament auf vielen Politikfeldern agierte und welche begrenzte Gestaltungskraft selbst den in sich mehrfach fraktionierten Reichstag kennzeichnete.

Bezüglich der USA ergeht sich Richter in vielfachen Schilderungen der Wahlmanipulation durch politische maschines bzw. bosses, des Stimmenkaufs durch Geld und Alkohol, der "Wahlgaudi" und der Kritik daran seitens bildungsbürgerlicher republikanischer Mugwumps. Wiederholt wird die New Yorker "Polit-Mafia" Tammany Hall angeprangert (75, 172, 391), eine Schätzzahl von 20%-50% gefälschter Stimmen in Großstädten referiert (418), und abwegig formuliert, amerikanische Wahlen hätten "häufig wenig mit der Ermittlung des Mehrheitswillens zu tun" gehabt (193), sie seien "frei von Regeln" (196) abgelaufen. Nach Richter waren sie "wohl kaum weniger 'gemacht' und weniger unfrei als in Preußen" (436), wenngleich weniger Druck durch Arbeitgeber (423f.) bestanden habe. Dass zeitlich wie örtlich zu differenzieren ist, erfährt man eher implizit (435, 548, 563) und zentrale Gegenargumente, die bereits bei Hubertus Buchstein nachzulesen sind, erst spät (433-436). Denn es existierte ein hochkompetitiver politischer Massenmarkt und Tammany Hall war das Hauptquartier der demokratischen Partei New Yorks, die Wahlbetrugsquote ist umstritten und in einem System ohne professionellen Staatsapparat spielten Parteien bei der Verteilung von Jobs oder Unterstützungen an arme Immigranten, die so im rauen Kapitalismus profitierten, eine Rolle. Anzuführen wären ferner Faktoren wie nicht seltene Wechsel in der lokalen Dominanz zwischen den zwei großen Parteien und siegreiche unabhängige Kandidaten, die häufige Aufdeckung von Korruption und ansehnliche Leistungen beim Städteausbau. Da dies beiderseits des Atlantiks wohlbekannt ist, erscheinen die langen, wohl als Demaskierung gedachten Schilderungen von Wahlbetrug einseitig akzentuiert. Zwecks Parallelisierung rezipiert Richter für Preußen kritische Analysen kaum, aber bevorzugt zugleich als Gewährsmänner für die USA kritische, linksorientierte Autoren wie Alexander Keyssar oder Glenn Altschuler / Stuart Blumin, die demokratiehistorische Selbstgefälligkeit in den USA dekonstruieren möchten. Deren Argumentation erscheint jedoch komplexer als bei Richter widergespiegelt und es gab sachliche Einwände. Keyssar benannte nämlich vier Faktoren für Wahlrechtsausweitungen: demokratische Ideale, Aktivistengruppen, Mobilisierung für Kriege und erst daneben Parteienkonkurrenz. Sven Beckert monierte bei Altschuler / Blumin deren konzeptionelle Vorentscheidungen, die das darauf basierende Bild vom politisch desinteressierten, manipulierten US-Bürger gutenteils konterkarierten. Die lange hohe Wahlbeteiligung deutet auf beigemessene politische Bedeutsamkeit hin. [8]

Auffällig ist die Zahl der Widersprüche, Sachfehler und kontrafaktischen Behauptungen. Pars pro toto seien diese genannt. War Preußen im 19. Jahrhundert ein Rechtstaat (367) oder war das Rechtstaatsverständnis häufig prekär (381)? Waren Wahlen den Bürgern lästig (42-56, 161, 249) oder doch für Landarbeiter, Sozialdemokraten und Polen (379) wichtig? Besaßen ländliche Wähler wegen unreformierter Wahlkreiseinteilung (244) doch ein größeres Stimmgewicht? Manche Widersprüche lösen sich auf, wenn jeweils explizit gemacht würde, für welchen Zeitraum oder soziale Gruppe Aussagen gelten sollen; das aber tut Richter zu selten. An faktischen Fehlern seien folgende genannt. Keineswegs wählten Männer über 40 nicht mehr SPD (134), freilich nur 25% statt 54% unter den Jüngeren. Robert Friedberg war nicht konservativer Abgeordneter, sondern linksnationalliberaler und konnte deshalb nicht konservative Reformbereitschaft signalisieren (280, 282). Ludwig Windthorst trat nur 1867 für öffentliche Wahl ein (277), seit dem Zentrumsantrag auf Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen 1873 (334) jedoch ständig für geheime Wahl. Heinrich v. Treitschke war 1903 zu tot, um gegen Wahlkabinen anschreiben zu können (512, ähnlich 452). Weder gab es in Großbritannien ein Pluralwahlrecht, freilich Mehrfachstimmen infolge von Zweitwohnsitzen, noch zeitigte das belgische Pluralwahlrecht ab 1893 den "furiosen Sieg" der Sozialisten (470), die vielmehr der 1884 bis 1917 dominanten Katholischen Partei deutlich nachstanden. [9]

Manche Formulierungen betrachtet der Rezensent als gedankenlos oder gar grotesk. Dass "in ganz Deutschland" 1848 das Missverständnis bestanden habe, Pressefreiheit bedeute Abschaffung aller ländlichen Lasten (159), ist absurd. Max Weber begegnete durchaus ministeriellen Ressentiments bei Professorenberufungen in Preußen und lehrte auch deswegen seit 1894 in Baden (533). Die Bemerkung, die indirekte Präsidentenwahl in den USA sei heute belanglos (272) übersieht, dass die konzeptionelle Verknüpfung von Electoral College und staatenweiser Stimmabgabe dort sehr folgenreich ist: George W. Bush 2000 und Donald Trump 2016 wurden trotz 0,5 bzw. 2,8 Mio. Rückstand im popular vote gewählt. "Technik und Materialität der Wahlen" stellen die Forschungsfrage bezüglich Demokratisierung oder Parlamentarisierung in Preußen-Deutschland nur dann "in neues Licht" (541), wenn diese komplexen Prozesse auf Wahlabläufe reduziert werden.

Grotesk ist (282) die Behauptung, die preußischen Konservativen seien seit 1917 für das gleiche Wahlrecht eingetreten, wo doch maßgeblich ihre Obstruktion die Reform bis Oktober 1918 verzögerte. [10] Die Formulierung (378), regierungsseitige Wahlmanipulationen seien Versuche zur Auflösung der Dilemmata von "Gewaltmonopol des nationalen Zentralstaats, der in Spannung stand zu den Partizipationsrechten der freien Bürger" bzw. des Konflikts "zwischen rationaler Herrschaft einerseits und Risikohaftigkeit der Wahlen andererseits" vermischt auf abstruse Weise ganz unterschiedliche begriffliche Kategorien. Nach Sätzen wie "Wahlen ermöglichten die Fiktion von Demokratie" (21) oder (571): Wahlen symbolisierten "die große Legitimationsfiktion der Moderne", bleiben Demokratieverständnis wie praktikable Alternativen Richters offen.

Erst ganz am Ende (568f.) benennt Richter konzentriert wesentliche Differenzen zwischen dem angeblich "durchschnittliche(n) konstitutionelle(n) Staat" Preußen und den USA: die Besetzung aller Ämter durch Wahlen, die demokratische Rhetorik im politischen Leben, zuvörderst die "ganz unterschiedliche Rolle der Staatsmacht". Und erst jetzt (564f.) werden die evidenten Begründungen von Wahlen mit den Ideen von Mitbestimmung der Bürger, Legitimation einer Regierung, staatlicher Integration und Nationsbildung als wesentliche Triebkräfte bei der Durchsetzung moderner Wahlen anerkannt. Für den Gesamttext aber ist widersprüchliche Uneindeutigkeit zu konstatieren, sodass die Autorin diskretionär diese oder jene Aussage als ihre Botschaft betonen kann. Der Rezensent hält dieses Oszillieren bei einem wissenschaftlichen Werk für grundsätzlich unangemessen. Er kann den Band nicht empfehlen.


Anmerkungen:

[1] Andreas Zielcke: Misstraut den besitz- und prinzipienlosen Massen, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.9.2017. Hubertus Buchstein: Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtliche Studie, Baden-Baden 2000, 354ff., 430ff.

[2] Günther Grünthal: Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58, Düsseldorf 1982, 319ff., 418ff.; Harro-Jürgen Rejewski: Die Pflicht zur politischen Treue im preußischen Beamtenrecht (1850-1918), Berlin 1973, 38-82; Adalbert Hess: Das Parlament, das Bismarck widerstrebte, Köln / Opladen 1964, 82ff.; Hellmuth v. Gerlach: Geschichte des preußischen Dreiklassenwahlrechts, Berlin-Schöneberg 1908, 39-83.

[3] Jens Späth: Spanien als Vorbild für ein frühliberales Europa? Das Modell der Verfassung von Cádiz (1812), online: www.europa.clio-online.de, Essays [22.2.2018]. Berthold Grzywatz: Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918, Berlin 2003, 426ff., 1120f. Manfred A. Pahlmann: Anfänge des städtischen Parlamentarismus in Deutschland. Die Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung unter der Preußischen Städteordnung von 1808, Berlin 1997, 124ff., 173-175.

[4] Richter konzediert 140 und 145f. Wahlrechtsforderungen 1848, weitere in: Walter Grab (Hg.): Die Revolution von 1848. Eine Dokumentation, München 1980, 94-96 (Kölner Volks-Wahlprogramm April 1848). Hans Fenske: Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2001, 239-241 (englische Chartisten), 384f. (Russland 1905), 292f. (Österreich 1907).

[5] Thomas Kühne: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994. Dort 500-513 zur Erwägung des Pluralwahlrechts 1907 und 440ff. bzw. 486ff. zu den Minimalkorrekturen 1893 bzw. 1906.

[6] Reinhold Zilch (Bearb.): Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38 (= Acta Borussica N. F.; Bd. 9), Hildesheim 2001, 163 (1.12.1905), 170 (3.3.1906). Kühne: Dreiklassenwahlrecht, 529-574 (Reformversuch 1910 und Stillstand bis 1917).

[7] Daniel Ziblatt: Shaping Demcoratic Practice and the Causes of Electoral Fraud, in: American Political Science Review 103 (2009), Nr. 1, 1-21, 18. Isabela Mares: From Open Secrets to Secret Voting. Democratic Electoral Reforms and Voter Autonomy, Cambridge 2015, Zitat 7; 9 steht: Das Kaiserreich war ein "electoral authoritarian regime with a mixture of democratic and authoritarian features". Dieter Langewiesche: Das Deutsche Kaiserreich - Bemerkungen zur Diskussion über Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands, in: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), 628-642. Karl Heinrich Pohl: Kommunen, Liberalismus und Wahlrechtsfragen: Zur Bedeutung des Wahlrechts für die 'moderne' Kommunalpolitik in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 13 (2001), 113-130, 118, 126, 128. Robert Arsenschek: Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich, Düsseldorf 2003, 149f., 375, 380.

[8] Buchstein: Öffentliche und geheime Stimmabgabe, 457-464 (Gegenargumente). Morton Keller: Affairs of State. Public Life in Late Nineteenth Century America, Cambridge, Mass. 1977, 522ff. (fraud and corruption). Jon Teaford: The Unheralded Triumph. City Government in America 1870-1900, Baltimore 1984, 175-187 (Leistungen). An Interview with Historian Alex Keyssar, Author of The Right to Vote, New York 2000, online: www.masshumanities.org/about/news/f05-rtv [20.3.2018]. Sven Beckert: Involved Disengagement. Reconsidering the Golden Age of Participatory Democracy, in: Reviews in American History 28 (2000), 560-568 (= Rezension von Glenn C. Altschuler / Stuart M. Blumin, Rude Republic. Americans and Their Politics in the Nineteenth Century, Princeton 2000).

[9] Buchstein: Öffentliche und geheime Stimmabgabe, 563f. (Windthorst). Neal Blewett: The Franchise in the United Kingdom 1885-1918, in: Past and Present 32 (1965), 27-56, 45f. (schätzungsweise 7% plural voters). Jörg Fisch: Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850-1914, Stuttgart 2002, 165f. (Dominanz der Katholischen Partei in Belgien).

[10] Zur Reformblockade der Konservativen Reinhard Patemann: Der Kampf um die preußische Wahlrechtsreform im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1964. Der Titel fehlt in Richters 60 Seiten Bibliografie.

Hartwin Spenkuch