Jens Nordalm (Hg.): Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart: Reclam 2006, 344 S., ISBN 978-3-15-017050-2, EUR 8,80
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Zur Geschichte des Historismus bzw. des Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert liegen mehrere einschlägige Textsammlungen vor, von denen der (vergriffene) Band "Über das Studium der Geschichte", herausgegeben von Wolfgang Hardtwig (München 1990), wohl die meistverbreitete ist. Alle diese Anthologien verbindet, dass sie theoretische Programmtexte vereinen, solche also, in denen programmatische Äußerungen zur Geschichtsauffassung zu finden sind. Vorteil dieser Texte (zumeist Aufsätze, Einleitungen historiografischer Werke, Reden) ist zum einen, dass sie sich aufgrund ihres begrenzten Umfangs für die ungekürzte Aufnahme in Sammelbände gut eignen. Zum anderen - und genau hierin liegt die Herausforderung für eine neue Quellensammlung - explizieren sie ein historiografisches Programm (z. B. Objektivität, strenge Faktizität und Vermeidung von Literarizität), das aber die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert meist nur halbherzig oder gar nicht einlöste. Wer also an einer Theorie der historiografischen Praxis, den Wesenszügen historistischer Literatur also (und eben nicht am historistischen Theorieprogramm), interessiert ist, der muss sich den Geschichtsdarstellungen des Historismus (und nicht seinen Theorietexten) direkt zuwenden. Um dieses Ziel zu verfolgen, muss man die Ansicht Nordalms gar nicht teilen, dass die "Historisten [...] wissenschaftlich korrekt" gearbeitet, aber "ihr Tun nicht immer so beschrieben" hätten (18). Letztlich geht es nicht um Korrektheit und das, was auch immer man als ihr Gegenteil ansehen mag, sondern um die Freilegung zweier unterschiedlicher theoretischer Konzepte.
Um die implizite Geschichtstheorie historistischer Geschichtsschreibung aufzudecken, hat Nordalm zehn Texte deutscher 'Klassiker' der Historiografie zwischen 1811 und 1908 zusammengestellt: Man findet unter anderem Auszüge aus Niebuhrs und Mommsens "Römischen Geschichten", Droysens "Alexander", Burckhardts "Cultur der Renaissance" und Meineckes "Weltbürgertum und Nationalstaat". Den Abschluss des Bandes bildet eine Auswahlbibliografie zur Historiografiegeschichte.
Die Lektüre der Texte macht vor allem die Sprachgewalt historistischer Erzählkunst deutlich, die die Autoren ganz bewusst einsetzten, um Anschaulichkeit zu erzeugen, Empathie zu bewirken und den Handlungsverlauf rhetorisch (durch Spannungsbögen, Tempuswechsel, Metaphorik etc.) zu konturieren. Viel weniger als in der Literatur des 20. Jahrhunderts versucht die des vorhergehenden, den Ablauf historischer Forschung historiografisch zu imitieren (etwa indem am Anfang der Darstellung 'offene Fragen' formuliert werden, die am Ende beantwortet werden) oder über Sprache Distanz zu erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall: Der Leser wird in die Geschichtsschreibung hineingezogen und nimmt, jede Parteilosigkeit verlierend, am Geschehen teil.
Leider ist dies so ziemlich das einzige Ergebnis, das der Leser von "Historismus im 19. Jahrhundert" mitnehmen kann. Dies liegt nicht etwa daran, dass keine weiteren Erkenntnisse möglich gewesen wären. Hierfür allerdings hätte es verschiedener Hilfestellungen durch den Autor bedurft, die man in dem Band schmerzlich vermisst. So wurde zwar jeder Textauszug mit einer Einleitung versehen. Gleichwohl reicht eine knappe Seite pro Text bei Weitem nicht aus, um den jeweiligen Autor biografisch vorzustellen, einen Eindruck von dem Gesamtwerk zu geben, aus dem der betreffende Ausschnitt ist, und dem Leser wichtige Leiterkenntnisse an die Hand zu geben, die dieser als roten Faden für seine Lektüre benutzen kann. Zudem findet sich auch in der Einleitung kein Hinweis auf die Kriterien der Textauswahl. Sie soll für etwas stehen, das Nordalm "Historismus" nennt und worunter er "noch vor jeder bestimmten Perspektive auf bestimmte Gegenstände eine sich um 1800 von der Aufklärung absetzende neue Grundhaltung gegenüber der Welt des Menschen" begreift. Der Historismus "führte bestimmte Weisen des historischen Erzählens und Erklärens herauf, die sich - das ist die These - seit dem 19. Jahrhundert in unserem Fach nicht mehr wesentlich verändert haben" (9). Was aber die "Grundhaltung" ist, was die "bestimmten Weisen des Erzählens und Erklärens" sein sollen, sagt der Autor nicht. Zudem ist der Historismusbegriff so weit, dass Nordalm auch den Historischen Materialismus als Historismus ("Der Historismus ist, wo es Not tut, ganz selbstverständlich historischer Materialismus" [Hervorhebungen durch den Rezensenten]) und Marx als Historisten bezeichnen kann (29, 31).
Letzten Endes kümmert sich Nordalm auch gar nicht weiter um mögliche Erkenntnisse, die sein Band hätte zeitigen können, da es ihm überhaupt nicht um wissenschaftliche Erkenntnisbildung geht. Sein Anliegen ist nicht, den Historismus zu untersuchen und darzustellen. Vielmehr versteht er sein Werk als Apologie: Die Textsammlung ziele "auf eine grundsätzliche Verteidigung des Historismus gegen die nun genauer zu benennenden Anwürfe seiner zahlreichen Verächter" (13). Damit vergibt der Autor prinzipiell eine weitere große Chance, die sein Band gehabt hätte: Das, was heute allgemein unter Historismus verstanden wird, wurde maßgeblich in Debatten formuliert, in denen sich Historiker seit den 1960er-Jahren gegenüber ihren Vorgängern abgrenzten und methodisch-theoretisch andere Wege zu schaffen versuchten. Die Sicht von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaften auf den Historismus und die Debatten um eine "Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus" (Wolfgang J. Mommsen) harren ihrer Historisierung durch ihre Kontextualisierung im wissenschaftsgeschichtlichen wie politischen Umfeld der 1960er-Umbruchsjahre. Dabei gilt es, Historismus endlich jenseits von Parteikämpfen zu betrachten, in denen er auf einen Inbegriff für den 'Primat der Außenpolitik', für 'Objektivismus', für 'nationale Ideologie' und ähnliches reduziert und damit zum Inbegriff des Veralteten gemacht wird.
Den Historismus freilich als aktuelle Partei auszugeben, um mit ihr gegen die Historischen Sozialwissenschaften anzutreten, wie es Nordalm tut, bringt der Wissenschaft gar nichts. Es wirkt vielmehr wie der Versuch eines Ritters von der unglücklichen Gestalt, sich beim Kampf gegen die Windmühlen großer Namen (u. a. W. J. Mommsen, H. U. Wehler, J. Rüsen, W. Hardtwig) seine Sporen zu verdienen. Unglücklich ist dieser Versuch umso mehr, als die wenigen nicht-polemischen Stellen in Nordalms Einleitung schiefe Werkinterpretation enthalten: So wird unter anderem behauptet, dass Droysens "Verstehen" ein "mutig konstruierendes Erklären" gewesen sei (27), und Rankes Vorgehen wird als "selbstbewusster Konstruktivismus der begriffsgeleiteten Forschung" proklamiert (28). Der Autor personalisiert den Historismus, wobei die Zuschreibung von Tugenden nur ein Mittel ist (hier: "mutig", "selbstbewußt") (32, 46 u. ö.); er imitiert zuweilen auch dessen heute antiquierte Sprache ("Sehe man zu, was der Historist Marcks treibt.", 14). Wurden an der Dissertation Nordalms, einer Biografie über Erich Marcks (2003), schon die starken apologetischen Züge bemängelt [1], dieser aber ihre Materialfülle zugute gehalten, so ist der vorliegende Band eine Zusammenstellung von Material, das durch seine Funktionalisierung für eine überflüssige wie sinnlose Apologie weitestgehend unnütz geworden ist.
Anmerkung:
[1] Auch die Dissertation Nordalms sollte "eine grundsätzliche Verteidigung des Historismus gegen die Anwürfe seiner Verächter" sein; Jens Nordalm: Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861-1938) und die deutsche Geschichtswissenschaft, Berlin 2003, hier, 13. Zur Einschätzung des Werks siehe die treffende Rezension von Jürgen Frölichs, in: H-Soz-u-Kult, 14.11.2003; URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-093.
Stefan Jordan