Inge Münz-Koenen / Justus Fetscher (Hgg.): Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900-1938) (= Schrift und Bild in Bewegung; Bd. 13), Bielefeld: Aisthesis Verlag 2006, 255 S., ISBN 978-3-89528-537-0, EUR 34,80
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Unter der Prämisse der Medienabhängigkeit der historischen Avantgarden konzentriert sich der Sammelband auf die Schnittstellen zwischen Bild und Schrift. Dabei sehen die Herausgeber Inge Münz-Koenen und Justus Fetscher die künstlerische Wahrnehmung als im Wesentlichen technisch präformiert an. Experimentelle Heran- und Umgangsweisen mit den Medien Film und Fotografie, sowie damit verbundene neue intermediale Kunstformen stehen im Zentrum der Einzelbeiträge, die den Zeitraum zwischen 1900 und 1938 behandeln. Die Herausgeber betonen, dass dabei eine sowohl medienästhetische als auch kulturkomparatistische Perspektive eingenommen wird. Der Band ist im Kontext der interdisziplinär ausgerichteten Avantgarde-Forschung zu sehen, die das Gesamtphänomen "Avantgarde" aus kunsthistorischer, literaturhistorischer und medientheoretischer Sicht zu fassen versucht. [1]
Dass ein Medienumbruch bereits um 1900 und nicht etwa erst nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hat, stellt Walburga Hülk heraus. Insbesondere Bergsons Zeit- und Erinnerungs-Konzepte sieht sie mit dem bildnerischen Dynamismus der Futuristen zusammen. Sie macht deren Absicht deutlich, nicht nur rein physische Bewegung, sondern energetische und transzendentale Kräfte darstellen zu wollen. Dies hat ihrer Meinung nach weniger mit der Entstehung neuer technischer Medialisierungsmöglichkeiten zu tun, sondern vor allem mit dem Aufkommen von Wahrnehmungs- und Erinnerungstheorien, die von Brüchen und Sprüngen in der menschlichen Perzeption und Memorierung ausgehen. Sie relativiert somit eine allzu direkte Medienabhängigkeit des Futurismus und stellt insofern auch die Prämisse einer "Medienavantgarde" in Frage. Demgegenüber sieht jedoch Heinz Brüggemann die so genannten "tavole parolibere" des Futuristen Fortunato Depero - aus Wörtern und Wortfragmenten gebildete Stadtkompositionen - durchaus in engem Zusammenhang mit medialen Erfahrungen, die Depero während eines Aufenthalts in New York gewonnen hatte. Die gleichwertige Behandlung von Text und Bild sowie den Dynamismus der Bilder Deperos führt Brüggemann auf den Einfluss von Leuchtschriften und die Kinematographie zurück.
Insbesondere die Bedeutung des bewegten Mediums Film wird in mehreren Beiträgen angerissen, explizit geht dem Verhältnis von Schrift und Bild im Film Marc Silberman am Beispiel des deutschen expressionistischen Films nach. Seiner Meinung nach hat der expressionistische Film zwar den Einsatz von Schrift ansatzweise experimentell erprobt, die Möglichkeiten der Intermedialität jedoch zu Gunsten konventioneller Bildinszenierungen nicht ausgereizt, denn Schriftelemente kommen im expressionistischen Film allenfalls in Form von Inserts und Zwischentiteln vor.
Die meisten Artikel des Bandes spüren ebenfalls spezifischen Bild-Schrift-Relationen nach: Oksana Bugakowas ausführliche Einzelanalyse des Bild-Gedichtes "Konstantinopel" von Kamenskij aus dem Jahr 1914 erschließt das Gedicht sowohl auf der textlichen als auch der bildlichen Ebene. Sie bringt seine visuelle Struktur in Verbindung mit kartografischen Abbildungsformen und macht so die Überschreitung der Gattungsgrenzen zwischen bildender Kunst und Poesie deutlich. Kamenskijs poetische Zerlegungstechnik wird durch den Artikel von Inge Münz-Koenen auf einer weiteren Ebene erschlossen, in dem sie das Verfahren des "sdvig" (Verschiebung) in der russischen Dichtung und Malerei untersucht. Münz-Koenen parallelisiert die Isolierung einzelner Wort-Elemente, z.B. in der Dichtung Majakoswkis, mit elementaren Formensprachen der Kunst, wie z.B. im Suprematismus. Intermedialität erscheint für sie als eine gleichberechtigte Interaktion zwischen den Medien, die auf der Übernahme ähnlicher Formungsstrukturen ("Methodenäquivalenz") beruht. Dass die Auseinandersetzung mit elementaren Wortbedeutungen und die Zerlegung von grammatischen und semantischen Strukturen nicht nur ein Projekt der russischen Avantgarde war, zeigt Walter Fähnders Beitrag zu "Schrift-Bild und Opto-Phonetik bei Dada". Die Forderung des Dadaisten Franz Jung nach der Aufhebung des exakten "Nebeneinander der Buchstaben und Worte" wird von Fähnders ebenfalls als eine Nivellierung bestehender Grammatik und Semantik interpretiert, die in einem völligen Neuaufbau der Sprache münden sollte. Die Kunstsprache "Za'um" der Russen ist für ihn ebenso ein Ergebnis dieses Neuaufbaus wie die dadaistischen Laut-Gedichte. Eine ähnliche Verfahrenstechnik findet auch im Surrealismus Verwendung: Justus Fetscher untersucht in seinem Beitrag den Begriff des "depaysement", den Breton auf die surrealistischen Collageromane Max Ernsts, und dabei besonders auf "La femme 100 tetes" anwendete. Als medienübergreifendes Verfremdungsverfahren wird die erkenntnisleitende Funktion dieses "depaysement" innerhalb des Surrealismus deutlich. Bretons eigene Verwendung von Fotografien als Illustrationen seiner Texte kontextualisiert Wolfgang Asholt vor dem Hintergrund der Surrealismus-Theorien von Benjamin, Krauss und Barthes. Während er bei Bretons Erzählung "Nadja" eine lebendige Interaktion zwischen Text und den beigegebenen Fotos konstatiert, die auf der Unmittelbarkeit der fotografischen Wiedergabe beruhe, bleibt für ihn bei "L'Amour fou" das Verhältnis zwischen Foto und Text verbindungslos.
Die letzten drei Artikel des Bandes widmen sich experimentellen Ansätzen in der russischen Avantgarde: Wolfgang Beilenhoff unterzieht das Motiv der ausgestreckten Hand in der russischen Plakat-Kunst einer genauen Analyse. Er stellt die zunehmende Diskursivierung des Motivs im Kontext des russischen Sowjetstaates sowie dessen Emblemhaftigkeit heraus. Sven Spieker verortet El Lissitzkys "Demonstrationsräume", insbesondere sein "Abstraktes Kabinett" in Hannover, als eigenständige "Experimentalsysteme" zwischen Labor und Büro. Lissitzky geht es Spieker zufolge um die Überwindung der traditionellen Museumsarchitektur durch deren Dynamisierung, Medialisierung und Verzeitlichung. Wie sehr der russische Konstruktivismus das Experiment in seine Arbeitsweise miteinbezog, macht Margarete Vöhringer an den umfangreichen Raumexperimenten Nikolaj Ladovskijs am Psychotechnischen Labor für Architektur in Moskau deutlich. Im Rahmen der Studentenausbildung mussten sich insbesondere Architekten ausgedehnten Experimenten und Übungen im stereoskopischen Sehen unterziehen, was sich auch auf die tatsächlich gebaute Architektur auswirkte.
Durch die enge thematische Eingrenzung des Bandes lassen sich zahlreiche erhellende Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen herstellen, sodass in der Gesamtheit der Einzelanalysen ein dichtes Bild von der "Medienavantgarde" zwischen 1900 und 1938 und ihren Verfahrenstechniken entsteht. Deutlich wird, wie ähnlich die neuen Verfahren intermedialer Verschränkung in Futurismus, Konstruktivismus, Dada und Surrealismus eingesetzt wurden, um bestehende Wahrnehmungsmuster nicht nur aufzubrechen oder zu zerstören, sondern um eine Vielfalt an neuen Bedeutungsebenen zu generieren.
Zu wünschen übrig lässt jedoch die Auswahl und Beschreibung der den Artikeln beigegebenen Abbildungen: Die von Andel in seinem Beitrag so eindrücklich dargestellte Innovationskraft der Typografie Ladislav Sutnars und deren Einfluss auf das heutige "Informationsdesign" wird leider nur unzureichend mit entsprechenden Abbildungen illustriert. Auch dem Aufsatz von Wolfgang Asholt ist lediglich eine unkommentierte Auswahl von Abbildungen nachgestellt, sodass das Text-Bild-Verhältnis bei Breton, aber auch bei Asholt, vom Leser nur schwer nachvollzogen werden kann.
Anmerkung:
[1] Hier seien die Forschungsprojekte des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, in deren Umfeld der vorliegende Band entstanden ist, angeführt, sowie das DFG-Projekt "Zur Intermedialität der russischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne" unter Leitung des Münchner Slavisten Aage Hansen-Löve.
Daniela Stöppel