Cornelius Borck / Volker Hess / Henning Schmidgen (Hgg.): Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem, München: Wilhelm Fink 2005, 376 S., ISBN 978-3-7705-4094-5, EUR 48,00
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Cornelius Borck: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie, Göttingen: Wallstein 2005
Der von den Medizin- und Wissenschaftshistorikern Cornelius Borck (Montreal), Volker Hess (Berlin) und Henning Schmidgen (Berlin) herausgegebene Band ist Produkt einer "diszipliniert-undisziplinierte[n] Lese- und Arbeitsgruppe" am MPI für Wissenschaftsgeschichte (1997/98), die sich der Diskussion der Schriften Georges Canguilhems gewidmet hat. Aus dieser Kooperation resultierte eine interdisziplinäre Werkstatt-Tagung, die ihren wohldisziplinierten Platz auf der Jubiläumstagung der "Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik e.V." in Hamburg fand. Mit dieser Veranstaltung wurde das Zentenarium deutscher Wissenschaftsgeschichte gewissermaßen dem Jahrhundertzeugnis des französischen Biophilosophen und Wissenschaftshistorikers Georges Canguilhem (1904-1995) gegenübergestellt.
Näher betrachtet ergibt sich aus dieser polaren, aber immer wieder überwundenen Oppositionsstellung auch eines der Oberthemen des Bandes, der nicht allein nach der Entwicklung des vielgestaltigen Denkens Canguilhems, nach dessen Bedeutung für Biophilosophie und Wissenschaftshistoriografie oder respektiven Anwendungsmöglichkeiten fragt. Denn unabhängig von der wechselvollen Rezeptionsgeschichte des Canguilhem'schen Denkens repräsentiert dessen Jahrhundertwerk zugleich den Gang einer intellektuellen französisch-deutschen Grenzbeziehung bis hin zur Konjunktur Canguilhems in der rezenten Wissenschaftshistoriografie. All diesen Themen wenden sich die größtenteils hochspannenden 14 Beiträge zu.
Wenn man so will, dann folgen sie der bestrickenden Einsicht, dass sich das intellektuelle Erbe Canguilhems nicht auf den ersten Blick offenbart, sondern dem direkten Zugriff eher versperrt. Der von ihm ausgehende Einfluss seit den späten 1950er-Jahren auf das akademische Milieu in Frankreich ist als ebenso "weit reichend" wie "unterirdisch, nahezu unmerklich" beschrieben worden - und das nicht nur aufgrund der Begutachtungsfrage von Michel Foucaults (1926-1984) Doktorarbeit. [1] Wie einige der Beiträge, etwa der witzig geschriebene Artikel von Alexandre Métraux über Canguilhem als "Architekt[en] einer Philosophie des Lebenden", zeigen, ist in seinem Werk die disziplinäre Architektur der französischen Wissenschaftsgeschichte parallel aufgehoben. Diese hat in ihren "administrativen Notlösungen" (321) scheinbar zufällig Konstellationen hervorgerufen und Brüche produziert. Damit trug sie dazu bei, Canguilhems Werk selbst als bricolage in verschiedenen Werkhallen, Wirkungsstätten und Amtsstuben - etwa im Pariser Ministère de l'Éducation Nationale - zutage treten zu lassen, wie François Delaporte schreibt: "Canguilhem verbindet diese unterschiedlichen Ebenen mit den Bildern und Metaphern der Normalität. So entsteht eine Wissenschaftsgeschichte, die ihrem Gegenstand angemessen ist [...]" (316).
Hinsichtlich der "unreduzierbaren Originalität" seines eigenen Denkens möchte man den Herausgebern zustimmen, dass es angesichts der aktuellen Konjunktur der Lebenswissenschaften erstaunt, Canguilhems Philosophie und Geschichte der Lebenswissenschaften nicht stärker rezipiert zu sehen (8). Gleichwohl sind im deutschen Sprachraum seit den kommentierten Übersetzungen Wolf Lepenies' einige historiografische Arbeiten entstanden, die sich der Auseinandersetzung mit Canguilhem verdanken. [2] Überdies - hierauf weist Hans-Jörg Rheinberger hin - ist Canguilhem einer Tradition qualifizierter Ideengeschichte zuzurechnen, zu der auch Arthur Lovejoy (1873-1962) und Alistair Cameron Crombie (1915-1996) zählten (233). In Deutschland hatte bereits in den 1960er-Jahren der Gründungsdirektor des Münsteraner Instituts für Theorie und Geschichte der Medizin, Karl Eduard Rothschuh (1908-1984), wissenschaftliche wie persönliche Kontakte zu Canguilhem geschlossen. [3] In ihrer Einleitung unterstreichen die Herausgeber das von Canguilhem und Rothschuh geteilte Interesse für Fragen der Physiologiegeschichte, doch übersehen sie nicht, dass deren Zugang zu den Lebenswissenschaften entlang den genannten Grenzziehungen ein je anderer war: Während sich Rothschuh an der Evolution medizinischer Konzepte abarbeitete, bemühte sich Canguilhem um eine Philosophie der Wissenschaften und deren Geschichte (28 f.). Im Rückgriff auf den Holismus des deutsch-amerikanischen Neurologen Kurt Goldstein (1878-1965) hat Canguilhem eine medizinische Begrifflichkeit formuliert, in der sowohl das Bichat'sche Schweigen der Organe bei normaler Funktion (Physiologie) als auch die Widerständigkeit lebendiger Materie im Krankheitsfall (Pathologie) aufgehoben sind. Wie Michel Morange herausstreicht: "Das erste Werk von Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, zielte darauf ab, den Patienten wieder in den Mittelpunkt der Medizin zu stellen und der Klinik wieder den Platz einzuräumen, den das Labor ihr schrittweise genommen hatte" (257).
Die hier versammelten Beiträge machen die biophilosophischen und historiografischen Ansätze Canguilhems einer breiten Öffentlichkeit in der momentanen Zeit neu zugänglich, einer Zeit, in der die technischen Manipulationsmöglichkeiten die biologischen Körpervorgänge in nicht gekanntem Maß verändern. Doch ist damit ein Fragenkomplex umrissen, der für Canguilhem keinesfalls einen Diskurs ähnlich dem der aktuellen "Bioethik" beschreibt; ihm ging es um die Bedeutung der Theorie der Lebenswissenschaften im Gesamtkontext von Philosophie und Geschichte der menschlichen Erkenntnis (7). Wie Jean-François Braunstein zeigt, sind vor diesem Hintergrund "Normalität und Normativität" der Lebensvorgänge je verschränkt (286), so dass Canguilhem nicht beabsichtigte, "mit dem Schreiben einer Moral zu beginnen [wie diejenigen es tun, die] sich darauf vorbereiten in ihrem Bett zu sterben" [4], sondern darum, eine praxeologische Deutung der Epistemologie und normativen Aufladung biophilosophischer Begriffe bereitzustellen (293 f.).
Die Anordnung der Einzelbeiträge ist entlang der Rubriken "Untersuchungen" (7 Beiträge) und "Interpretationen" (7 Beiträge) vorgenommen, sodass ein Gleichgewicht zwischen den Anwendungsbeispielen Canguilhem'scher Kategorien - der Beziehung zwischen Gehirn und Subjekt (Borck), dem Eigensinn des Fiebers (Hess) oder der Konstitutionellen Medizin (Philipp Flesch) - sowie den theoretischen Einordnungen seines Denkens - seiner historischen Epistemologie (Rheinberger), seiner rekonstruktiven Biophilosophie (Morange) oder dem diskussionswürdigen Verhältnis von Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (Métraux) - resultiert. Der Band wird durch eine Auswahlbibliografie von Schriften Canguilhems sowie Sekundärliteratur ergänzt.
Wie wohl bei vielen Sammelbänden ist auch hier eine Bandbreite zwischen äußerst hochwertigen Beiträgen einerseits und einigen weniger innovativen andererseits zu erkennen: Das betrifft die manchmal unzureichende Anwendungstiefe Canguilhem'scher Kategorien bei individuellen Fallbeispielen, einen Beitrag mit vollkommen überschießender Länge sowie ein philosophisches Aperçu in sachlich unangemessener Kürze. Doch dies ist eine Folge des experimentellen Charakters, "Studien im Anschluß an Georges Canguilhem" zu entwickeln. Ein weiterer Kritikpunkt wäre die undurchsichtige Akquise der Beitragenden: Viele sind für ihre Verwendung Canguilhem'scher Konzeptionen bekannt; indes entsteht bei einzelnen der Autorinnen und Autoren leicht der Eindruck, dass in ihrer Narration Canguilhem eher ad hoc hinzugezogen wurde. Außerdem greift der überwiegende Teil (5 Beiträge) aus der Rubrik "Interpretationen" auf publizierte französisch- oder englischsprachige Arbeiten zurück. Dies dient natürlich der Popularisierung der Canguilhem'schen Ansätze, doch dürften diese Arbeiten einem spezialisierten Publikum bekannt sein. Es wäre wünschenswert gewesen, Zugriff auf aktuelle Beiträge aus der englischsprachigen Debatte zu haben und die Perspektive zu weiten; zugleich vermisst man unter den Beitragenden einige wichtige Schüler Canguilhems.
Keinesfalls schwächen diese Kritikpunkte jedoch das enorme Verdienst der Herausgeber, mit der Publikation des Bandes die Diskussion um Canguilhem wieder belebt und das Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Medizingeschichte, Bioethik und Philosophie der Lebenswissenschaften diesseits und jenseits des Rheins befördert zu haben. Canguilhems multiple Frontstellungen zeigen in nuce das verborgene intellektuelle Kapital auf, welches hier für die aktuelle Wissenschaftsgeschichte und -philosophie schlummert. Letztlich sind die Herausgeber zu beglückwünschen, dass sie über weite Strecken das richtige (Augen-)Maß besaßen und angesichts der komplexen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Canguilhems keinen Eigensinn gezeigt haben; vielmehr ist es ihnen gelungen, dessen intellektuelles Potenzial in großer Fülle auszuloten.
Anmerkungen:
[1] Didier Eribon: Michel Foucault: Eine Biographie (frz. 1961), Frankfurt a. M. 1993, 167.
[2] Caspar Grond-Ginsbach: Georges Canguilhem als Medizinhistoriker, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996), 235-244; Wolf Lepenies (Hg.): Canguilhem, Georges: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a. M. 1979; Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper - lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich 2005; s. hierzu die Rezension von Monika Dommann, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/01/8963.html.
[3] Siehe beispielsweise Karl E. Rothschuh: Historische Wurzeln der Vorstellung einer selbsttätigen informationsgesteuerten biologischen Regelung, in: Nova Acta Leopoldina 37 (1972), 91-106.
[4] Georges Canguilhem: Inauguration de l'amphithéâtre Jean Cavaillès à nouvelle Faculté des lettres de Strasbourg (1967), in: Georges Canguilhem: Vie et mort de Jean Cavaillès, Ambialet 1976, 9-34, hier 33.
Frank Stahnisch