Volker Hess / Laura Hottenrott / Peter Steinkamp: Testen im Osten. DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag der westlichen Pharmaindustrie, 1964-1990, Berlin: BeBra Verlag 2016, 272 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-074-3, EUR 26,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Raymond Stokes / Ralf Banken: Aus der Luft gewonnen. Die Entwicklung der globalen Gaseindustrie 1880 bis 2012, München / Zürich: Piper Verlag 2014
Peter Wegenschimmel: Zombiewerften oder Hungerkünstler? Staatlicher Schiffbau in Ostmitteleuropa nach 1970, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Sharon A. Farmer: The Silk Industries of Medieval Paris. Artisanal Migration, Technological Innovation, and Gendered Experience, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2017
Christian Ebhardt: Interessenpolitik und Korruption. Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (1830-1870), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Johanna Wolf: Assurances of Friendship. Transnationale Wege von Metallgewerkschaftern in der Schiffbauindustrie, 1950-1980, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018
Marianne Subklew-Jeutner: Schattenspiel. Pfarrer Eckart Giebeler zwischen Kirche, Staat und Stasi, Berlin: Metropol 2019
Leonore Ansorg: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg, Berlin: Metropol 2005
Sabine Bergstermann: Stammheim. Eine moderne Haftanstalt als Ort der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016
Cornelius Borck / Volker Hess / Henning Schmidgen (Hgg.): Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Georges Canguilhem, München: Wilhelm Fink 2005
Eric J. Engstrom / Volker Hess / Ulrike Thoms (Hgg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Als Patient profitiert fast jeder von den vorangegangenen Tests seiner Medikamente. Deswegen - und weil die Pharmaindustrie (trotzdem) keinen guten Ruf genießt - war die Aufregung groß, als 1991 Arzneimitteltests westlicher Unternehmen in der DDR bekannt wurden. Systematisch erforscht wurde dies bislang allerdings kaum.
Die Medizinhistoriker Volker Hess, Laura Hottenrott und Peter Steinkamp sind dem nun nachgegangen, gefördert durch die bzw. den Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, die Stiftung Aufarbeitung, die Bundesärztekammer sowie die Pharmaindustrie. Nach zweieinhalb Jahren intensiver Archivstudien können sie fast 450 Versuchsreihen westlicher Pharmakonzerne in der DDR nachweisen - und halten 1000 weitere für möglich. Einige Fälle haben die Autoren exemplarisch untersucht - ausgewählt etwa nach den getesteten Wirkstoffen, den beteiligten Institutionen und der Zahl der involvierten Patienten. Überraschendes Ergebnis der profunden Studie ist die "enge Verflechtung des DDR-Gesundheitssystems mit dem westlichen medizinischen Markt" (65).
Die Prüfaufträge für neue Medikamente vermittelte eine zentrale medizinische Aufsichtsbehörde in Ost-Berlin meist an Bezirkskrankenhäuser, häufig auch an Uni-Kliniken und selten an konfessionelle Krankenhäuser. Für die westlichen Pharmakonzerne, hauptsächlich aus der Bundesrepublik, der Schweiz und den USA, konnte dies bis zu 30 Prozent günstiger sein als wenn sie die Versuche in der freien Welt hätten durchführen lassen. Die an Devisen klamme DDR ließ ihre Einnahmen aus diesem Geschäft nur teilweise in das Gesundheitswesen fließen.
Involviert war auch die Staatssicherheit, deren Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in den Kliniken wertvolles Insiderwissen notierten, das heute eine Aufklärung erst ermöglicht. Der Mielke-Apparat wollte Firmeninterna und Marketingstrategien der Westkonzerne ausspionieren, deren Wirtschaftsspionage abwehren sowie insbesondere vermutete Abwerbungs- und Bestechungsversuche ostdeutscher Ärzte durchkreuzen. Seine Aufgabe war es auch, "illegale" Testreihen aufzudecken (und nicht etwa zu organisieren), denn ostdeutsche Ärzte umgingen bis in die 1970er-Jahre gelegentlich die Ost-Berliner Aufsichtsbehörde.
Als Versuchslaboratorium begehrt war das Land dennoch wegen der Qualifikation, Akkuratesse und Motivation seiner Mediziner. "Die Ärzte dort waren von der Pharmaindustrie nicht so korrumpiert wie andere, die hier immer nur die Hand aufhalten, aber wenig dafür tun wollen", so ein bundesdeutscher Pharmavertreter (170). Die ostdeutschen Mediziner freuten sich vielmehr über die besseren Medikamente oder Geräte für ihre Patienten. Andere Ärzte hofften auf Fortschritte in der Wissenschaft oder auf Prestige, Publikationen und - meist vergeblich - Westreisen zu Fachkongressen für sich selbst.
Die DDR war aus Sicht der Pharmavertreter ein dankbares Terrain, insbesondere wegen ihrer starken Zentralisierung. Gab die Ost-Berliner Aufsichtsbehörde (nicht zuletzt aufgrund lockender Devisen) grünes Licht, mussten nicht in unzähligen Krankenhäusern die Klinken geputzt werden wie in der Bundesrepublik. Verlockend war auch das (datenschutzrechtlich bedenkliche) medizinische Zentralregister, durch das Probanden mit "passenden" Krankheitsbildern viel leichter zu finden waren als im Westen.
Die Autoren fanden "keine Anhaltspunkte für Verstöße gegen die Aufklärungspflicht" der Patienten (181), was allerdings in der DDR auch seltener protokolliert werden musste. Die Teilnehmer der Testreihen wussten wohl um mögliche Risiken, zusätzliche Untersuchungen und woher die Präparate stammten. An Heilung oder Linderung interessiert, wollten sie gerade deswegen als Testpersonen fungieren, galt der Zugang zu den Medikamenten aus dem Westen doch als Privileg. Sie vertrauten stärker auf den medizinischen Fortschritt und folgten eher den Empfehlungen ihrer Ärzte zur Teilnahme an den Versuchsreihen als Bundesbürger, die Pharmatests immer skeptischer betrachteten.
Letztlich wurden in der DDR bei den Versuchen die gleichen Standards eingehalten wie im Westen. Weil sich häufigere Untersuchungen (im Rahmen der Testreihen) positiv auf das Befinden der Patienten auswirken, wurden Behandlungserfolge erzielt. Letztlich wurden bessere Medikamente für alle entwickelt. Was ist also gegen Medikamententests in Ostdeutschland einzuwenden?
Den Pharmakonzernen war bekannt, dass die häufigen DDR-Reisen ihrer Vertreter alle Beteiligten in das Visier der Staatssicherheit rückten. Vor allem haben die westlichen Firmen die Leichtgläubigkeit der Probanden, ihre Folgsamkeit gegenüber den Ärzten und den Nimbus der Westpräparate ausgenutzt, so die Autoren. Zumal bei Nebenwirkungen individuelle Entschädigungsansprüche nicht zu befürchten waren; sollten dennoch Regressforderungen erwachsen, hätten DDR-Behörden dies (auf Rechnung der Pharmakonzerne) geräuschlos bereinigt. Weitere Fragen drängen sich auf: Bedeutete das Einverständnis von Patienten in der DDR wirklich genau das gleiche wie in der Bundesrepublik? Wer konnte sich in Ostdeutschland über die Wirkstoffe oder den Leumund der Pharmakonzerne unabhängig informieren?
"Illegale", der DDR-Aufsichtsbehörde nicht gemeldete Versuchsreihen hielten die befragten 16 Experten aus der Medizin- und Pharmabranche für ausgeschlossen - die Autoren fanden jedoch untrügliche Beweise hierfür. Sie hätten daher vielleicht die Glaubwürdigkeit ihrer Zeitzeugen stärker hinterfragen sollen - statt ein Interview über zwölf Seiten im Haupttext wörtlich wiederzugeben. Testverläufe seien in den Kliniken grundsätzlich zuverlässig, Todesfälle jedoch mitunter verspätet "nach oben" berichtet worden. Doch wenn unwillig gemeldet wurde, was sich nicht verheimlichen ließ - wurde dann nicht vielleicht noch mehr verschleiert?
Die Autoren werfen viele ethische Fragen auf, beantworten diese angesichts der Besonderheiten einer Diktatur sowie der Lücken in den Akten jedoch vielleicht etwas vorschnell. Fragen werden bleiben - auch weil das Bundesgesundheitsamt bereits vor 1989 von den Versuchsreihen in der DDR sogar an Kindern wusste. Strengere Standards in der Bundesrepublik führten dazu, dass immer mehr Tests (und damit Risiken) nach Ostdeutschland ausgelagert wurden. Überzogenen Spekulationen über heimliche "Menschenversuche" westlicher Pharmakonzerne in der DDR haben die Autoren mit ihrer sorgfältigen Recherche jedoch zu Recht die Grundlage entzogen.
Tobias Wunschik