Christian Ebhardt: Interessenpolitik und Korruption. Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (1830-1870), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 365 S., ISBN 978-3-8471-0425-4, EUR 50,00
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Christian Ebhardts Studie ist die überarbeitete Fassung seiner 2014 an der Technischen Universität Darmstadt angenommenen Dissertation, die im Rahmen des von der DFG geförderten Projektes "Korruption in der Moderne" unter der Leitung von Ivo Engels entstand. Der Autor untersucht in vergleichendem Zugriff die Entwicklung ökonomischer Interessenpolitik in der Eisenbahnbranche Frankreichs und Großbritanniens zwischen 1830 und 1870.
In seinem knapp gehaltenen Forschungsüberblick definiert er den im Laufe der Geschichte variierenden Begriff der Korruption nach Michael Johnston als "Missbrauch einer öffentlichen Position oder Ressource zum privaten Nutzen, gemäß juristischer oder sozialer Standards, die das System öffentlicher Ordnung einer Gesellschaft bestimmen" (14), und fragt nach dem Einfluss von Privatpersonen oder gesellschaftlichen Gruppen auf politische Akteure und Entscheidungen sowie umgekehrt nach der als kritisch wahrgenommenen Einflussnahme des Staates auf die Privatwirtschaft. Aufgrund der Öffentlichkeit des Diskurses über Korruption zieht Ebhardt als Grundlage für seine Untersuchung vor allem publizierte Quellen wie französische und britische Parlamentsdebatten, Tageszeitungen, Eisenbahnjournale, Pamphlete und zeitgenössische Monographien heran.
Der Autor unterteilt seine Studie in zwei Großkapitel zur Legislative und Exekutive. Im ersten Unterkapitel zur Legislative nimmt er die Methoden in den Blick, mit denen sich die Eisenbahngesellschaften in Großbritannien und Frankreich bis zu den späten 1840er Jahren etablierten. Während es in Großbritannien darum ging, die unterschiedlichen Interessengruppen, alte und neue Eliten, in den parlamentarischen Prozess einzubinden, und die Regierung durch Reformen eine Radikalisierung der Korruptionspolitik verhindern konnte, erweckte die enge Verflechtung zwischen Eisenbahnindustrie, Hochfinanz und Exekutive in Frankreich "den Eindruck eines geschlossenen Systems" (83), so dass die entsprechenden Debatten hier eine höhere Sprengkraft entfalteten.
Das zweite Kapitel beleuchtet anhand der Spekulationsphasen in den 1840er Jahren die Auswirkungen und Bewertungen des Aktienkapitalismus sowie die politische Instrumentalisierung von Korruptionsvorwürfen in Großbritannien und Frankreich. Er kann zeigen, dass es in beiden Ländern zu ähnlichen Korruptionsfällen kam, daraus aber unterschiedliche Konsequenzen gezogen wurden: In Frankreich häufig systemisch-frühsozialistisch und antijudaistisch interpretiert, galt Spekulation in Großbritannien als "individuelles Fehlverhalten" (130). Das kapitalistische Wirtschaftssystem wurde nicht in Frage gestellt; religiöse Zugehörigkeiten spielten aufgrund der geringen Zahl bedeutender jüdischer Eisenbahnunternehmer keine Rolle.
Im dritten Kapitel stellt Ebhardt dar, wie die wirtschaftlichen Entwicklungen der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu spezifischen Arten der Interessenpolitik mit der Entstehung regionaler Monopole führten. Vor gänzlich unterschiedlichem politischem Hintergrund kam es zu weitreichenden Übereinstimmungen in der Entwicklung der Eisenbahnbranche. In Großbritannien bildete sich aufgrund intensiver Konkurrenz nach Fertigstellung der Hauptstrecken und vielfältiger Probleme beim Bau der Nebenstrecken eine von der Öffentlichkeit kritisch beäugte Tendenz zur Monopolisierung; der Railway Interest formierte sich als dauerhafter Interessenverband der Eisenbahnbranche. In Frankreich gab es eine Interessenvertretung hingegen nur "im informellen Rahmen" (181f.), da nach französischem Staatsverständnis eine Anerkennung und Integration von professionellen Interessenvertretungen nicht zulässig war. Überdies blieb die Zahl der einflussreichen Eisenbahngesellschaften im Zweiten Kaiserreich überschaubar.
Die Beeinflussung von Wahlen steht im Fokus des vierten Kapitels. Da in beiden Ländern die direkte Einflussnahme in Form von Stimmenkauf nicht öffentlich zu legitimieren war, nutzten die Direktoren der Eisenbahngesellschaften in der Regel ihr ökonomisches Kapital und ihre Netzwerke zur Beeinflussung von Wahlen. So kandidierten sie für politische Ämter vor allem in den Regionen, in denen ihre Unternehmen über großen Einfluss verfügten. Dabei wurden soziale und wirtschaftliche Abhängigkeiten genutzt, um Druck auf die Wähler auszuüben, die gleichzeitig auch im jeweiligen Unternehmen beschäftigt waren.
Das fünfte und zugleich erste Kapitel des zweiten, "Exekutive" betitelten Teils der Studie fragt nach dem angemessenen Verhältnis des Staates zur Privatwirtschaft und dem Handlungsrahmen der politischen Akteure, um deren Korruptionsanfälligkeit zu beurteilen. Während man in Großbritannien den Eisenbahnbau möglichst in die Privatwirtschaft einbeziehen und den staatlichen Einfluss begrenzen wollte, zogen die Republikaner und Etatisten in Frankreich Korruptionsvorwürfe als Argument für die Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes heran.
Das sechste und letzte Kapitel spürt anhand von familiären Verflechtungen, Konzessionsverhandlungen und Bestechungsskandalen den konkreten Verbindungen zwischen Ministerialbürokratie und Privatwirtschaft nach. Zwar waren in Großbritannien und Frankreich die Verflechtungsformen unterschiedlich; jedoch galt in beiden Ländern die Auffassung, "dass ein Amt in der öffentlichen Verwaltung durch einen Dienst am Gemeinwohl charakterisiert wurde" (320), wobei dieser Begriff in den Korruptionsdebatten weitgehend unbestimmt blieb. Es gab unterschiedlich stark formalisierte interne Kontrollinstanzen: In Großbritannien mit seinen kleinen Behörden war die persönliche Kontrolle durch den Behördenleiter vorherrschend; in Frankreich gab es bei der zuständigen, mehrere hundert Beschäftigte umfassenden Behörde der Ponts et Chaussées schon früh ein Kontrollgremium.
In seinem Resümee unterstreicht Ebhardt, dass Korruption auch in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts, in dem Netzwerkstrukturen die tradierte Patronage ablösten, "kein gottgegebenes Phänomen [war], das geduldig ertragen werden musste, sondern [...] durch Reformen eingedämmt werden" konnte (335). Er versteht Korruptionsdebatten als einen Aushandlungsprozess über Normen, der zum Anstoß und zur Beschleunigung solcher Reformprozesse beitrug und dadurch eine eigene Wirkungsmacht entfaltete.
Die insgesamt lesenswerte Studie zeigt auf, wie fruchtbar die in der historischen Forschung zuweilen vernachlässigte Arbeit mit publizierten Quellen sein kann. Insbesondere anhand der sorgfältigen Auswertung der Presse und der Parlamentsdebatten werden der öffentliche Diskurs um Korruption im Eisenbahnbau in Großbritannien und Frankreich, seine Ziele und Folgen greifbar und tragen durch die darin ablesbaren Deutungshorizonte und Sinnzuschreibungen zu einer kulturhistorischen Erweiterung der Wirtschaftsgeschichte bei. Gleichwohl wäre die Heranziehung weiterer Quellen, namentlich jener der entsprechenden Eisenbahngesellschaften und Banken, als Gegenüberlieferung wünschenswert gewesen, um einerseits die öffentliche Wahrnehmung der staatlich-privatwirtschaftlichen Verflechtung und Korruption von der Vorgehensweise und Intention der Betreffenden abzugrenzen und andererseits die Mechanismen und Kommunikationsbeziehungen der personalen Netzwerke auch anhand dieser Seite nachzuzeichnen. Aufgrund der vielfältig verzweigten Firmen- und persönlichen Netzwerke wäre - dies als Detailergänzung - nicht nur das in dem insgesamt ansprechend gestalteten Band enthaltene Personen-, sondern auch ein Firmenregister wünschenswert gewesen.
Verena von Wiczlinski