Sophie Ruppel: Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 358 S., ISBN 978-3-412-02106-1, EUR 42,90
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Die 2005 in Basel als Dissertation vorgelegte Darstellung widmet sich in aller Breite einem bislang in der historischen Forschung nur sporadisch behandelten Thema. Die Autorin formuliert ihr Vorhaben denn auch vorrangig ausgehend von ethnologischen bzw. psychologischen Studien, schließt aber in ihre methodischen Überlegungen beispielsweise auch Norbert Elias' Interdependenztheorie ein und thematisiert mit dem Problem der Geschlechterbeziehungen in der höfischen Gesellschaft ein weiteres Forschungsdesiderat (13-31). Ziel der Studie ist es, "Geschwisterschaft" in zeitliche und kulturelle Kontexte einzuordnen und somit die implizit angenommene Kontinuität des Phänomens zu hinterfragen (11).
Die Gruppe des Hochadels wurde zu diesem Zweck vorrangig deshalb ausgewählt, weil hier die Quellenlage für eine differenzierte Darstellung am günstigsten war: In zahlreichen fürstlichen Familienarchiven existieren umfangreiche Briefbestände, die gemeinsam mit Testamenten, Eheverträgen und ähnlichen Familienurkunden gute Möglichkeiten bieten, innerfamiliäre Konstellationen und Konflikte nachzuvollziehen. Wer schon mit frühneuzeitlichen Korrespondenzen gearbeitet hat, weiß freilich auch um die Probleme: Teilweise unüberschaubaren Mengen von Briefen auf der einen Seite stehen große Quellenverluste, teilweise durch gezielte Vernichtung durch die Empfänger selbst, gegenüber. Die Briefkultur verlangte nach formelhafter Sprache, die der Nutzer heute erst entschlüsseln und einordnen muss. Die Briefinhalte zeigen deutlich, dass in der Frühen Neuzeit die später so charakteristische Trennung von "Öffentlichem" und "Privatem" noch keine Rolle spielte etc. All diese Probleme bei der Benutzung von Korrespondenzen als Quellenfundus diskutiert die Autorin eingangs (35-56) und setzt diese Überlegungen in der eigentlichen Darstellung auch um.
Dass eine so angelegte Untersuchung sich nur auf eine klar begrenzte Auswahl von fürstlichen Familien beziehen kann, liegt auf der Hand; Sophie Ruppel hat sich für zwei Geschwisterreihen entschieden, die den Kern der Untersuchung bilden, die Kinder des Kurfürsten und "Winterkönigs" Friedrich V. von der Pfalz und die Kinder Herzog Georgs von Braunschweig-Calenberg, sowie für zwei weitere, kleinere Geschwistergruppen mit den Kindern Kurfürst Georg Wilhelms von Brandenburg und Landgraf Wilhelms V. von Hessen-Kassel. Alle diese fürstlichen Kinder sieht die Autorin als Mitglieder einer Generation, zwischen etwa 1620 und etwa 1630 geboren (34). Anhand dieser 21 Personen, die im Anhang der Arbeit auch in Kurzbiographien präsentiert werden (349-357) entwickelt sie dann in großer inhaltlicher Spannweite und Differenziertheit ihre Ausführungen.
Zunächst wendet sie sich dabei der hochadligen Familie des Alten Reiches generell zu (57-82). Im nächsten, umfangreichsten Kapitel (83-179) stehen die Geschwisterbeziehungen im engeren Sinne des Wortes im Mittelpunkt: Kindheit und Jugend, Lebenswege, Geschwister als Bezugspersonen, die Hierarchisierung der Geschwister nach dem Ius Aetatis, Rechte und Pflichten, das Verhalten bei Geschäftsabwicklungen etc. Die beiden folgenden Kapitel sind einerseits der Kooperation (in politischen Fragen, beim Austausch von Informationen und Gaben, bei der Wahrung der Familien- wie der persönlichen Ehre, 180-229), andererseits den Konflikten (um Apanagen, Testamente, Territorien, Loyalitäten etc., 230-293) gewidmet. Ein letztes Kapitel befasst sich schließlich zusammenfassend mit den herausgearbeiteten Charakteristika von Geschwisterbeziehungen, setzt diese in Relation zu zwei Sonderfällen, die von besonderer Nähe bzw. besonderer Distanz zwischen Geschwistern zeugen, und versucht einen Ausblick auf den Wandel von Geschwisterbeziehungen im Hochadel im Anschluss an den Untersuchungszeitraum.
Sophie Ruppel hat mit ihrer Arbeit nicht nur "Geschwisterschaft" im frühneuzeitlichen Adel beschrieben, sondern ein Forschungsfeld abgesteckt, in dem verschiedene übergreifende Themen zusammenlaufen, wie die Sozialgeschichte des Adels, die Geschlechtergeschichte, die Geschichte politischen Handelns, die Geschichte der Emotionen etc. Sie hat ihre Befunde differenziert herausgearbeitet und mit der gebotenen Zurückhaltung generalisiert. Wünschenswert wären unbedingt weitere Studien, die die hier dargelegten Befunde mit solchen aus anderen familiären, politischen und konfessionellen Kontexten erweitern. Aufgrund fehlender Vorarbeiten und der verwendeten, umfangreichen Briefbestände war eine Begrenzung auf eine exemplarische Untersuchung notwendig, die freilich manchmal schnell an Grenzen stößt, wenn es um die Verallgemeinerbarkeit einzelner Feststellungen geht. Dies gilt beispielsweise für die interessante Einordnung des Funktionalitätsverlustes der Geschwisterbeziehungen in den frühneuzeitlichen Verstaatlichungsprozess (310f.). Dies gilt für Aussagen über Verheiratung, Versorgung und Karrieren von Geschwistern (96-108), ebenso aber auch für die Kritik der Autorin am Begriff der "Kavalierstour" (95). In ihrem Sample finden sich offenbar gerade ausschließlich Familien, die eher einen "Kindertausch"(89f.), also längere Aufenthalte von Jungen und Mädchen an befreundeten Höfen, praktizierten, als regelrechte adlige Bildungsreisen. In anderen Familien des Hochadels (z.B. Kursachsen) und in anderen Generationen (der Dreißigjährige Krieg als Reisehemmnis sollte nicht vergessen werden) stellte sich das Bild anders dar.
Kritisch anzumerken bleibt schließlich, dass eine stärkere Straffung des Textes seine Lesbarkeit verbessert hätte, und dass Leser und Leserin im Literaturverzeichnis nicht wenige neuere Publikationen vermissen werden. Insgesamt jedoch hat die Autorin eine interessante Studie vorgelegt, die Methodik und Material für weitere vergleichende Arbeiten liefert.
Katrin Keller