Tony Judt: Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Hainer Kober, München: Carl Hanser Verlag 2006, 1024 S., ISBN 978-3-446-20777-6, EUR 39,90
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Tony Judts Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart gehorcht keiner Großtheorie. Auch ein überwölbendes Motiv hat sie nicht; sie mäandert durch eine Vielzahl disparater Themen: der Abstieg Europas, die Geschichte vom Ende des Fortschritts und des Fortschrittsglaubens, die Geschichte der Sozialstaatlichkeit, die Geschichte der Integration; die wehmütige Geschichte vom alten, im Weltkrieg und danach umgekommenen und die zwiespältige Geschichte vom neuen Multikulturalismus; die schwierigen transatlantischen Beziehungen; das skandalöse Beschweigen der Massenverbrechen und ihr späteres Einrücken ins Zentrum europäischer Gedächtniskultur.
Kokettiert der Autor einleitend auch mit einem angeblich mangelnden Vermögen zur Synthese, so zerfällt das Buch doch keineswegs in einen postmodernen Flickenteppich. Vielmehr erschließt sich auf den zweiten Blick eine in hohem Maße stimmige Gesamtarchitektur: es geht um die Geschichte zweier politisch-sozialökonomisch-kultureller Makromodelle, des westlichen und des staatssozialistischen. Es geht um den gedoppelten Weg vom Aufbruch und Aufbau der frühen Nachkriegszeit über die Turbulenzen der Sechzigerjahre in die Krise seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Europa - dies ist die Prämisse des Unternehmens - existiert, trotz fluider Grenzen und scharfer innerer Disparitäten; Europa existiert, zumindest als lebendige Einheit verdichteter und zusehends sich verdichtender Kommunikation.
Die ersten Nachkriegsjahrzehnte zumindest des Westens erscheinen als ein glückliches Interim: Jahre des Wohlstands in einer zusammenrückenden Staatengemeinschaft - unter dem amerikanischen Schutzschild, wohlabgeschirmt von den armen Verwandten im Osten. Der Kalte Krieg ist zum europäischen Bürgerkrieg lediglich der Epilog; die heißen Kriege sind in die Dritte Welt ausgelagert. Dass der Schein immerwährender Prosperität trügt, wird seit den frühen Siebzigerjahren, spätestens 1989 evident: der Kokon bricht auf, die Beziehungen zum großen amerikanischen Bruder werden tendenziell unfriedlich, die Europäische Union muss sich, unter den ungewohnt bedrohlichen Rahmenbedingungen der Globalisierung und unter Einschluss der östlichen Hälfte des Kontinents, neu erfinden.
Soweit die Retro-Perspektive. Vom Beginn der Nachkriegszeit her gesehen ist das Jahr 1945 nicht die Schwelle zu einer friedlichen und wohlhabenden, sondern zu einer düsteren neuen Epoche. Auf den langen Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg folgen Massenelend, gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen und ethnische Säuberungen. Die europäischen Gesellschaften werden homogener, nationaler - aber auch kulturell ärmer. Der Verfall von Recht und Gesetz ist Teil des Alltags; die Reinigung von der Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus stößt dort an Grenzen, wo sie das elementare Funktionieren der Gesellschaften beeinträchtigt; im sowjetisch kontrollierten Ostmitteleuropa geht sie bruchlos in die Eliminierung der politischen Gegner über. Schlussstrichmentalität, kollektive Amnesie und die Fingierung von Widerstandsmythen sind nachgerade zwangsläufige Vorbedingungen einer Nachkriegsrekonstruktion, die sich im Wesentlichen an der Brecht'schen Reihenfolge von "Fressen" und "Moral" orientiert.
Eine Rückkehr zur Vorkriegszeit wäre freilich unmöglich: schon deshalb, weil Krieg und NS-Besatzungsherrschaft die Vorkriegsstrukturen zerstört haben - besonders im Osten mit verheerenden Auswirkungen. Hitler steht also am Anfang der Zweiteilung Europas. Die Erinnerung an die schlechte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt im Westen einen umfassenden Lernprozess in Gang. Im Blick auf die fatalen ökonomischen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise formiert sich ein Nachkriegskonsens der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte für "Planung": für die Intensivierung der Staatstätigkeit und die Ausweitung des öffentlichen Sektors, insbesondere aber für einen ressourcenintensiven Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Es gibt auch neue politische Kräfte und Akteure: in erster Linie die christlichen Volksparteien unter der Führung alter, tief in der Vorkriegszeit wurzelnder, skeptisch-pragmatischer Staatsmänner vom Schlage Adenauers und De Gasperis.
Ohne die USA wäre diese Form der Rekonstruktion undenkbar. Das amerikanische Engagement gründet im aufgeklärten Eigeninteresse: die Hoffnungslosigkeit der Massen macht ja den Kommunismus attraktiv. Wichtiger noch als die materielle Hilfestellung durch den Marshallplan ist der psychologische Effekt. Die Rekonstruktion der europäischen Staaten und des Staatensystems ist eigentlich Neukonstruktion. Die deutsche Teilung ist sozusagen die Rückseite der westdeutschen Eigenstaatlichkeit; bald wird die Bundesrepublik ökonomisch, politisch und militärisch in den Westen integriert. Innovativ sind auch die Keimformen der europäischen Einigung. Deren Motor ist das Verlangen Frankreichs nach Kontrolle des potenziell mächtigeren Nachbarn. Großbritannien steht vorerst proud alone; die Erneuerung der splendid isolation erwächst aus der Orientierung auf das Empire, aber auch aus einem neuen, durch den Sieg im Weltkrieg begründeten Selbstbewusstsein.
Müßig ist die Frage nach der "Schuld" an der Teilung des Kontinents. Letztlich ziehen, im Interesse wirksamerer Kontrolle, alle Beteiligten die Teilung Deutschlands vor. In der östlichen Hälfte Europas taktiert die Sowjetunion vorerst defensiv und risikoscheu - aber unverkennbar als neue Hegemonialmacht. Der sozialökonomisch-politische Generalumbau geriert sich anfangs als Vollendung der bürgerlichen Revolution, nationale Wege zum Sozialismus sind vorerst zugelassen. Erst 1948/49 mündet der Weg in terroristisch flankierte Machtergreifungen und in die offene, überall ziemlich ähnlich verlaufende Sowjetisierung. Auch wirtschafts- und handelspolitisch wird das Imperium auf die Bedürfnisse des Hegemons ausgerichtet. Ähnlich wie im Westen setzt der wirtschaftliche Wiederaufbau auf den Vorrang der Investitionen vor Konsum. Allerdings: die Strategie forcierter Industrialisierung hat eine unheilvolle Verzerrung der gesamtwirtschaftlichen Proportionen zur Folge. Säuberungen und Schauprozesse mit antisemitischer Note, die Eliminierung der Privatbauern und des Bürgertums, nicht zuletzt die unter Einsatz brutaler Machtmittel "gelösten" Entstalinisierungskrisen von 1953 und 1956. Wie der ungarische Volksaufstand noch einmal drastisch zeigt, ist das Machtmonopol der kommunistischen Parteien nicht zu brechen. Paradoxerweise erschüttert gerade dieses Paradebeispiel "erfolgreicher" Machttechnik die Legitimität des Kommunismus in den Grundfesten. Dessen Herrschaft wird vorerst stabilisiert, allerdings um den hohen Preis von Stagnation und zynischer Resignation.
Weiterhin vorkriegszeitlich gefärbt ist zunächst, überall in Europa, das Alltagsleben: prägend sind eine altmodische, oft religiös unterfütterte Sittlichkeit, austerity und apolitischer Provinzialismus. Gleichwohl werden, zumindest in Mittel- und Westeuropa, die Nachkriegsjahre zur Inkubationszeit des forcierten sozialökonomischen Wandels. Rahmen und Hintergrund ist die vertragliche Besiegelung der Besitzstände der Supermächte. In diesem Gehäuse findet, unter der Ägide postideologischer Konsens-Regierungen, der welthistorisch einzigartige Boom der staatsinterventionistisch-korporatistisch durchregulierten Marktwirtschaften statt. Das exorbitante Wachstum schöpft zunächst aus den Rekonstruktionspotenzialen; es profitiert vom demografischen Aufschwung, von der Lohnzurückhaltung der in den Wachstumspakt eingebundenen Gewerkschaften, von der Steigerung der Produktivität, auch vom sektoralen Wandel, nicht zuletzt vom Freihandel. Was hier wächst, ist noch einmal die klassisch-fordistische Industriegesellschaft; ihre hohe Nachfrage nach Arbeitskraft wird durch die europäische Binnenmigration gedeckt. Die expandierenden Konsumspielräume leisten der Amerikanisierung durch Popkultur, Mode und Musik Vorschub.
Es ist nicht die beste aller Welten, aber eine erträgliche. Provinzieller, in einem positiven Sinn, werden die westlichen Kolonialmächte. Der Abschied vom britischen Empire verläuft friedlicher als der vom französischen Kolonialreich. Ähnlich sind allerdings die Folgen: sowohl die sehnsüchtige Suche nach der gloire perdue wie auch die Krise der britischen Identität münden letztlich in die europäische Gemeinschaft, die vorwiegend auf ökonomischen Verflechtungen gründet; nationale Interessen sind und bleiben hier aber durchaus virulent.
Den Zenit erreicht das "westliche Modell", als Inbegriff einer historisch einzigartigen Kombination von Wohlstand, sozialer Sicherheit und sozialer Mobilität, in den "sozialdemokratischen sechziger Jahren". Diese sind, bei näherem Zusehen, nicht exklusiv sozialdemokratisch: der auf Klassenpakten aufruhende, durch die Erosion der alten Parteimilieus befestigte Konsens ist ein gesamtgesellschaftlicher. Er wird von den bürgerlichen Parteien mitgetragen. Das Gespenst der Revolte geht um auf dem Grund, den die Bildungsrevolution und eine bereits deutlich transnationale Jugendkultur gelegt haben. So erst wird die Frontstellung der Jungen gegen die Aufbaugeneration möglich. Jedoch: eine ernst zu nehmende Bedrohung der Stabilität ist "1968" nicht.
Im Osten wie im Westen enden die Sechzigerjahre in einem Missklang: das Scheitern der Reformen in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und in Ungarn zeichnet den Weg in ökonomische Stagnation und moralischen Verfall vor. Das Machtmonopol der Staatsparteien wird noch einmal gerettet. Jedoch beruht dieses auf einer makaberen Kombination westlicher Kredite und sowjetischer Bajonette. Zur Signatur der Siebziger- und Achtzigerjahre werden im Westen Ölpreissteigerungen und Stagflation, ebenso wie die Budget- und Zahlungsbilanzkrisen. In der dritten industriellen Revolution und mit dem Aufschwung der asiatischen Konkurrenz erodieren die "alten" Industrien, die Arbeitslosigkeit steigt. Die Politik reagiert mit der Konservierung der Strukturen und mit hilflosen Anstrengungen zur Befriedung des blue-collar Proletariats. Der Nachkriegskonsens weicht zuerst in Margret Thatchers Großbritannien einer neuen Auffassung von den Aufgaben des Staates. Privatisierung und Vermarktung sollen modernisieren; die Zerstörung der Gesellschaft wird billigend in Kauf genommen. Mitterands Erneuerung Frankreichs von links hingegen wird von den internationalen Finanzmärkten in die Knie gezwungen. Patentrezepte gibt es offenkundig nicht, die "Krise der Regierbarkeit" zeichnet sich ab.
Zukunftsweisend sind die Demokratisierung und Modernisierung der südeuropäischen Autoritarismen. Der Weg Portugals, Spaniens und Griechenlands nach Europa ist kurz: bereits die Diktaturen waren in die militärischen Institutionen des Kalten Kriegs integriert, die Ökonomien sind westkompatibel, die Eliten nordorientiert, bald werden die Brüsseler Regionalhilfen zu einem wichtigen Instrument der Einebnung interner und externer Disparitäten. Ansonsten aber wird in den Siebziger- und Achtzigerjahren, im Kapitalismus wie im Kommunismus, die große Fortschrittsutopie endgültig dekonstruiert. "Helsinki", die polnische Opposition, der tschechoslowakische und der ostdeutsche Dissent rehabilitieren die altmodischen Bürger- und Menschenrechte und die Zivilgesellschaft. Am Ende steht die Implosion des Staatssozialismus: das sowjetische System als Sackgasse der Evolution.
Der Zerfall des sowjetischen Imperiums macht den Weg zur deutschen Wiedervereinigung frei. Die Transformation in Ostmitteleuropa ist eine Herkulestat: Blaupausen existieren ebenso wenig wie ein neuer Marshallplan und solide einheimische Freiheitstraditionen. Der Ausverkauf der Wirtschaft an die Oligarchen etabliert mafiose Strukturen; die Misere der Modernisierungsverlierer leistet der Wiederkehr als Nationalisten camouflierter Kommunisten Vorschub. Einzige realistische Modernisierungsoption ist Europa. Bereits die Erweiterungsrunden seit den Siebzigerjahren hatten sich vom ökonomischen in Richtung auf den politischen Zusammenschluss bewegt. Von der Aufnahme der Transformationsländer gehen neuerlich Impulse für die Integration aus, auch wenn sich Apathie gegen ein "Europa von oben" breit macht.
Wo steht Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Die Verlagerung arbeitsintensiver Industriezweige, die neue soziale Ungleichheit und das Heranwachsen einer Schicht von Dauerarbeitslosen und working poor machen die Lage prekär. Die Globalisierung entmachtet tendenziell den Staat; er steht den Integrationsproblemen, die aus der islamischen Zuwanderung erwachsen, wie der populistischen Reaktion darauf ziemlich hilflos gegenüber. Jedoch: ungeachtet der massiven Verschiebung der weltwirtschaftlichen und der weltpolitischen Gewichte ist das europäische Gesellschaftsmodell keineswegs obsolet: jenseits aller Verschleißerscheinungen bietet der europäische Sozialstaat mehr Lebensqualität als "Amerika". Europa wird weiter zusammenwachsen, aber es wird auch ein Europa der Nationalstaaten bleiben. Als Welt-Modell einer friedlich kohabitierenden, eng verflochtenen Staatengemeinschaft wird es auch im 21. Jahrhundert an Bedeutung wenig verlieren; die europäische Wertegemeinschaft wird imstande sein, einer unfriedlichen Welt-Machtpolitik europäische Werte als universalistische vorzuleben und vorzuschreiben.
Wie dem auch sei. Der Rezensent mag mit dem Autor nicht im Kaffeesatzlesen konkurrieren. Judt erzählt die Nachkriegsgeschichte als versuchte Heilung aller Heillosigkeiten des europäischen Bürgerkriegs. Der Ansatz trägt weit; als Passepartout wirkt er überfordert. Judt erzählt die Nachkriegsgeschichten Europas bis 1989 aufeinander bezogen: als Geschichte der Transfers wie als Geschichte der Unterschiede und der Ähnlichkeiten. Ost und West kommen also gemeinsam in den Blick: hierin liegt eine der großen Leistungen des Buches. Sonderlich systematisch angelegt und durchkonstruiert ist der Vergleich der beiden Welten allerdings nicht. Manches wird auch gar nicht verglichen, sondern bloß nebeneinander gestellt; manches Motiv wird impressionistisch, hier aus dieser, dort aus jener Nationalgeschichte illustriert. Dennoch gelingen, etwa im Abschnitt über die "neuen Regionalismen", nachgerade geniale komparative Kabinettsstücke.
Judt erzählt in der guten angloamerikanischen Sachbuch-Tradition. Die Kapitelüberschriften sind flott, manche sind womöglich zu flott. Forschungskontroversen wie die quälenden Windungen der Stalinnoten-Debatten bleiben dem Leser erspart. Hauptschauplatz ist die politische Ökonomie: Europa ist kein bloßer "Text" oder "Diskurs", sondern ein Ensemble harter Fakten. Den Realitäten trägt das Buch durch den Blick auf die gnadenlos formierende Macht der internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen Rechnung. Es wächst das Gefühl unheimlicher Prekarität unserer Lebensgrundlagen; über Öl-Abhängigkeit und Klimawandel würde man deshalb gerne ausführlicher lesen. Auch von der Sozialstruktur- und Konjunkturanalyse hätte man sich eher mehr als weniger gewünscht: so bleiben die tektonischen Verschiebungen in den europäischen Gesellschaften der Sechzigerjahre und die langfristig wirksamen Umbuchungen in ihren Wertehaushalten unterbelichtet. Der Spätsozialismus ist mit unklaren Verwesungs-Metaphern eher beschrieben als gesellschaftsgeschichtlich analysiert. Die Kultur kommt vor, wenn auch arg selektiv.
"Bleibende Leistungen" gibt es nicht in einer unaufhörlich sich selbst kritisch überholenden Wissenschaft. Insofern ist auch dieses Werk keine bleibende Leistung. Trotzdem: es ist ein großes, ein großartiges Buch; eine stupend gelehrte, monumentale Synthese im emphatischen Sinn des Begriffs.
Christoph Boyer