Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2009, 1343 S., ISBN 978-3-406-59235-5, EUR 38,00
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Heinrich-August Winklers Geschichte des Westens handelt nicht von einem Ort in der Geografie, sondern von einer abstrakteren Konfiguration wechselseitig verbundener politischer Institutionen, Ideen und Werte: Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie - ausgedacht, in einem langen, mühsamen, kurvigen und unübersichtlichen Entwicklungsgang realisiert und nach "Abirrungen" wieder ins Lot gebracht durch die aufklärerische Kraft unausgesetzter, unerbittlicher Selbstreflexion. Ursprung des Westens ist Europa; seine "Inkarnationen" finden sich heute aber auch außerhalb, insbesondere in den ehemaligen angelsächsischen Siedlungskolonien. Die USA nehmen in Winklers Darstellung eine prominente Position ein.
Der Westen ist ein "normatives Projekt". "Normativ" finde ich plausibel: Der Begriff meint nicht vom Autor an den Stoff herangetragene Werturteile, sondern die Normen und Werte, die er in der Geschichte vorfindet und als Tatsachen beschreibt. "Projekt" hingegen insinuiert mir zu viel Planung, Absicht und folgerichtiges Voranschreiten - zu viel Ingenieursgeist sozusagen (und die dazugehörigen Ingenieure). Das führt ab von der Kontingenz, von den Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen des historischen Prozesses (die Winkler durchaus nicht unterschlägt). "Der Westen" ist nichts Homogenes, sondern ein Genotyp mit einer Vielzahl deutlich varianter Phänotypen. Leitfrage ist, was diese Vielfalt zusammenhält. Winkler beantwortet sie, ungeachtet der sporadisch begegnenden "Wesenseigenschaften", nicht-essenzialistisch. Die Familienähnlichkeiten und ihre Ursachen sind Fakten; sie werden in der Form empirischer (Hypo-)Thesen beschrieben.
Winklers Real- und Diskursgeschichte der abendländischen Politik birgt in diesem Zuschnitt zwei Probleme. Erstens: Rechtsstaat, Demokratie und überhaupt der moderne Anstaltsstaat entstehen faktisch in unauflöslicher Verschlingung mit dem modernen Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, mit der fortschreitenden reflexiven Rationalisierung von Theologie und Philosophie, Kunst und Wissenschaft. Eine solche Gesamtgeschichte des okzidentalen Rationalismus im Geiste Max Webers schwebt Winkler nicht vor. Das darf man als besonnene Selbstbescheidung lesen. Weil die Politikgeschichte über weite Strecken aber nur schwach an Wirtschaft und Gesellschaft, an Wissensordnungen und Mentalitäten gekoppelt ist, verliert sie substanziell an Erklärungskraft. Zweitens: Die Geschichte des Westens findet in diesem Buch in splendid isolation statt. Die nicht-westliche Außenwelt kommt gelegentlich, etwa in Gestalt der osteuropäischen Orthodoxie oder als Funktion und Objekt von Kolonialismus und Imperialismus, in den Blick - und ansonsten schlicht und einfach nicht vor. Auch das kann man als kluge, arbeitsökonomisch gebotene Mäßigung lesen. Und sicherlich ist Winkler kein hochfahrender eurozentrisch-normativer Modernisierungstheoretiker. Aber der Westen gewänne eben doch erst in einem globalen Referenzsystem Konturen. Nun wäre es sicherlich unbillig, dem Autor eine histoire totale mondiale abzufordern: Ein solches titanisches Unternehmen wird kein Sterblicher je vollenden. Ich benenne das Dilemma, auflösen kann ich es nicht.
Messen wir das Unternehmen am selbst gesteckten Ziel einer Zusammenschau der langen Linien westlicher Politik. Deren Genese soll beschrieben, ihre spezifische Physiognomie muss erklärt werden. Die Anfänge liegen in der Antike. Es gibt mittelalterliche Vorformen; eine wichtige Zäsur ist die Reformation. Über die Dreh- und Angelzone der neuzeitlichen Revolutionen führt der Gang der Untersuchung bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts (dem ein zweiter Band gewidmet sein wird). Wird die gängige Liste der "formativen Kräfte" ordentlich abgearbeitet? Manches fehlt, manches finde ich unterbelichtet: Etwa, gleich im Eingangsbereich, die griechische Philosophie, ebenso das römische Recht. Allerdings: Solche und andere Lücken zu bekritteln wäre, angesichts der schieren Größe des Unternehmens, wohlfeile Beckmesserei.
Gravierendere Probleme als im "Was" der Synthese sehe ich im "Wie". Winkler verfügt über keine "Historik der langen Linien", die komplexe, womöglich durch Raum und Zeit ausgreifende Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu konzeptualisieren imstande ist. [1] Über weite Strecken wird mittels vager Analogien, wackliger Assoziationsbrücken, unscharfer Kausalbehauptungen und einer organizistischen Metaphorik sich entfaltender Keimformen "erklärt". Einige Beispiele: Ein großer Bogen spannt sich vom jüdisch-christlichen Monotheismus hinüber zum Vernunftdenken der Moderne - wie und warum, das habe ich nicht genau verstanden. Warum übrigens soll Monotheismus "rationaler" sein als Polytheismus? Das habe ich noch nie und auch jetzt nicht verstanden. Der "Geist des Individualismus" als historische Wirkmacht: Wie ließe sich das operationalisieren? Der Deismus begreift die Welt als eine von göttlichen Eingriffen freie Maschine; später wird der Rechtsstaat eine von den Eingriffen autokratischer Willkür unbehelligte Rechts-Produktions- und Verwaltungsmaschine sein. Welcher realhistorische Pfad führt hier von der Theologie zum Recht? Ist das Brückenkonzept "Maschine" mehr als eine formale Analogie und das Argument insgesamt mehr als ein post hoc ergo propter hoc?
Man muss solche Konstruktionen nicht als Hokuspokus abtun. Womöglich enthalten sie Intuitionen, die sich, begrifflich-theoretisch durchgearbeitet und präzise operationalisiert, in brauchbare Erklärungshypothesen überführen lassen. Wieder ein Beispiel: Es gibt bei Winkler eine Verbindungslinie zwischen der mittelalterlichen Schwurgemeinschaft und dem modernen bundesstaatlichen Prinzip - eine auf den ersten Blick mysteriöse Fernwirkung à la Rupert Sheldrake. Aber sie ließe sich rational rekonstruieren: Innovative institutionelle Arrangements wie die Eidgenossenschaft mögen mehr oder weniger durch Zufall entstanden sein. Wenn sie sich als Problemlöser bewähren, werden sie stabilisiert, archiviert und mit höherer Wahrscheinlichkeit in neue Umgebungen transferiert. Wie genau die Speicherung und auf welchen Wegen der Transport erfolgt - dies bleibt im Einzelnen zu klären. Aber das sind dann empirische, prinzipiell lösbare Probleme.
Wo über Erklärungslogik nachgedacht wird, gerät unverzüglich ein für die "Geschichte des Westens" zentral wichtiges Argument in den Blick: Die im mittelalterlich-lateinischen Kulturkreis (im Unterschied etwa zum orthodoxen) sich herausbildende Teilung der Macht zwischen "geistlich" und "weltlich", zwischen "fürstlich" und "ständisch" schafft Freiräume, in denen à la longue die pluralistische Zivilgesellschaft heranwachsen kann. Nun öffnet Machtfragmentierung zwar Korridore für Bürgerfreiheit; sie kann diese jedoch keineswegs vollständig erklären. Sie ist, mit anderen Worten, notwendige, aber nicht hinreichende Ursache. Hier ist der Punkt erreicht, an dem das Explanans durch weitere Determinanten "aufgefüllt" werden muss. Winkler tut dies; aber damit ergeben sich meines Erachtens vier Probleme:
Die Spezifizierung der hinreichenden Ursachen muss, erstens, ökonomisch verfahren: Es geht also um die relevanten Determinanten - und nur um diese. Die Maxime ist, wie sich im Blick auf die "Geschichte des Westens" zeigt, keineswegs trivial: Mittels Zufütterung hat Winkler sie zu einer politisch-diplomatisch-militärischen Haupt- und Staatsaktionen-Geschichte von gigantischem Format und über weite Strecken unklarem argumentationslogischen Status gebläht. Wie im Märchen der Griesbrei dringen die ungeheuren Stoffmassen aus überquellenden Töpfen und verkleistern die Konturen der Analyse. Hier verstrickt die große Nacherzählung sich in den Wirrnissen der Koalitionskriege und den Finessen der Kabinettspolitik, dort verirrt sie sich im Dickicht revolutionärer Parteiungen oder im Pulverdampf der pronunciamientos. Zweitens: Zwar treiben auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte die Genese des Westens und den Gang der Untersuchung voran - mittelalterliche Stadtbürger, südeuropäische Gutsbesitzer und skandinavische Bauern, die vorrevolutionäre französische Gesellschaft und die britische Unternehmerschaft werden jedoch nur selektiv und ad hoc, sozusagen zum Mit-Anschieben des historischen Prozesses an Schaltstellen engagiert. An solchen Stationen wechselt, drittens, der Weltgeist gerne die Pferde. Mit anderen Worten: Die Untersuchung springt - von der Französischen Revolution zu den preußischen Reformen, ins liberale Großbritannien, zur amerikanischen Westexpansion usw.usf. Die bits and pieces fügen sich nicht zu einem stringenten, abgerundeten Gesamtbild konsequent durchgezogener und aus ihren sozialökonomischen Bedingungskonstellationen abgeleiteter langer Linien. Viertens: Zwar präsentiert die "Geschichte des Westerns" keine einlinige Fortschrittserzählung. Menschenrechte und Sklaverei, humanistischer Universalismus und integraler Nationalismus gelangen über ein beziehungsloses Nebeneinander und das plakative Einerseits-Andererseits jedoch nicht hinaus. Für eine "Dialektik der Aufklärung" - als feuilletonistische Formel totgeschunden, in der Sache unverändert aktuell - fehlt das begriffliche Instrumentarium. Probe auf dieses Exempel wird vermutlich der zweite Band sein: Es werden dort die Mächte des westlichen Lichts streiten wider die Mächte der totalitären Finsternis. Aber ist der Kommunismus als holistischer Sozialkonstruktivismus im aufklärerischen Geist nicht ein zentraler Bestandteil des westlichen Projekts? So weit, so gut. Von Stanislaw Lem gibt es eine Sammlung von Rezensionen nicht existierender Bücher. [2] Der zweite Band der "Geschichte des Westens" soll erst nach seinem Erscheinen rezensiert werden.
Anmerkungen:
[1] Eine solche Methodenlehre müsste also wieder angestrengt über Kausalität in einer Welt, die nicht nur aus Texten besteht, nachdenken. Viel ist hier von einem modischen Postmodernismus versäumt, verflacht und verschludert worden. Vgl. als - vorläufigen - Tiefpunkt: Jörg Baberowski: Über die schöne Schwierigkeit, Geschichte zu schreiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juli 2009.
[2] Stanislaw Lem: Die vollkommene Leere, Frankfurt am Main 1981.
Christoph Boyer