Rezension über:

Richard Dikau / Jürgen Weichselgartner: Der unruhige Planet. Der Mensch und die Naturgewalten, Darmstadt: Primus Verlag 2005, 191 S., ISBN 978-3-89678-545-9, EUR 39,90
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Rezension von:
Werner Krauß
University of Texas at Austin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Werner Krauß: Rezension von: Richard Dikau / Jürgen Weichselgartner: Der unruhige Planet. Der Mensch und die Naturgewalten, Darmstadt: Primus Verlag 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/10501.html


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Richard Dikau / Jürgen Weichselgartner: Der unruhige Planet

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Das vorliegende Buch vereinigt gleich mehrere Gattungen: Es dient als Einführungsliteratur für Studenten in den Gegenstand Naturkatastrophen und deren Management, es ist ein Nachschlagewerk und ein klug kommentierter Bildband sowohl für den Fachmann als auch den gebildeten Laien, aber es ist auch eine Bestandsaufnahme des State of Art in der Katastrophenforschung und ein kritischer Beitrag zu deren Verbesserung. Um die Aktualität ihres Gegenstandes müssen sich die Autoren keine Sorgen machen, an Katastrophen herrscht wahrlich kein Mangel. Noch während sie das Buch fertig stellten, ereignete sich der Tsunami in Südostasien, und auch Hurricane Katrina fand noch Eingang in die nicht enden wollende Liste von Natur- und anderen Katastrophen. Das großformatige Buch erweist seinem Titel "Der unruhige Planet" alle Ehre. Im fortlaufenden Text, in Statistiken, Grafiken, Farbbildern mit Untertiteln und in eingerahmten Boxen finden sich unzählige Beispiele aus aller Welt. Dass es trotz dieses hohen Anspruchs und der Vielfalt kein unruhiges Buch geworden ist, gehört zu den herausragenden Leistungen der beiden Autoren. Dies gilt sowohl für die grafische Gestaltung als auch vor allem die inhaltliche Gliederung. Das Layout verdient besonderes Lob: Die Unterteilung des Textes erlaubt sowohl eine fortlaufende Lektüre des Textes als auch ein zerstreutes Blättern; fast jede Seite bietet optische Reize, die zur partiellen Lektüre einladen.

Die inhaltliche Gliederung folgt wiederum der Logik des Zusammenhangs zwischen Naturgefahren, Katastrophenvorsorge und Risikomanagement. Gleich zu Anfang verweisen die Autoren darauf, dass Katastrophen in Zeiten des Klimawandels nicht nur ein globales Problem sind, sondern zunehmend auch globale Dimensionen aufweisen. Dieses Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, da Katastrophen nicht nur als singuläre Phänomene von Interesse sind, sondern als chronisches Symptom unserer Zeit interpretiert werden können. Die Autoren legen wohl zu Recht nahe, dass die Abschätzung von Risiken, Katastrophenmanagement und -prävention zu den zentralen Aufgaben der Politik und Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehören.

Erst das Zusammenspiel von Naturereignissen und gesellschaftlichen Faktoren löst Katastrophen aus. So banal diese Einsicht, so schwierig die daraus entstehenden methodologischen und epistemologischen Probleme. Katastrophenforschung ist nach wie vor eine weitgehend von den Natur- und den angewandten Ingenieurswissenschaften dominierte Disziplin, während die kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätze im besten Fall lediglich addiert werden, in der Regel aber noch gänzlich ein Mauerblümchendasein fristen. Die Autoren spielen von Beginn an mit offenen Karten: Sie legen die Grenzen einer Natur/Kultur Dichotomie offen und unterwerfen sich ihnen dennoch gleichzeitig. In den folgenden Kapiteln stellen sie die natürlichen und die gesellschaftlichen Ursachen und Dimension von Katastrophen aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt dar. Diesen (notgedrungenen) Mangel machen sie aber in den Kapiteln über Katastrophenmanagement und anstehende Zukunftsaufgaben wieder wett. In den vielen über das Buch verstreuten Fallbeispielen und speziell in Kapitel 6 wird der Widerspruch einer getrennten Behandlung des Systems Erde und des Systems Gesellschaft besonders deutlich: Dikau und Weichselgartner zeigen souverän, dass natürliche Prozesse längst von gesellschaftlichen durchdrungen sind und umgekehrt.

Was in den Fallbeispielen gelingt, bleibt in epistemologischer Hinsicht noch offen. Immer wieder brechen die Autoren aus dem systemischen Gerüst aus und versuchen sich in teilweise erfreulich spontanen Interpretationen, in denen sie mit Kritik an sozialen und politischen Umständen und Ungleichheiten nicht sparen. Sei es die Darstellung einer "normalen" Katastrophe wie derjenigen im Sudan, die Maßnahmen zur Katastrophenprävention in Norddeutschland oder in Indien, immer wieder geraten diese Fallbeispiele auch zu Lehrstücken über den fließenden Übergang gesellschaftlicher und natürlicher, aber auch lokaler und globaler Faktoren. Mancher sozialwissenschaftliche Globalisierungstheoretiker könnte sich hiervon eine Scheibe abschneiden. Gleichzeitig stößt das Buch hierbei jedoch immer wieder auch an seine Grenzen: Naturwissenschaftlicher Exaktheit steht hier eine Art "wildes" kultur- oder sozialwissenschaftliches Denken gegenüber. Ein Beispiel hierfür ist der eingeschobene Artikel über Ursachen und Folgen von 9/11, der eher an einen (durchaus interessanten) Zeitungskommentar denn an eine sozial- oder kulturwissenschaftlich fundierte Analyse erinnert.

Es ehrt die Autoren, dass sie diesen Mangel nicht verschweigen. So zentral der Begriff des "Risikos" in diesem Buch ist, so sehr fällt denn auch auf, dass der Begriff der "Risikogesellschaft", den der Soziologe Ulrich Beck prägte [1], nicht erwähnt wird. Von dessen Ansätzen in der Tradition einer interpretativen Hermeneutik bis hin zu neueren Ansätzen wie der Actor-Network-Theorie eines Bruno Latour [2] gibt es längst eine an Exaktheit den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Ansätzen in nichts nachstehende sozial- und kulturwissenschaftliche kritische Umweltforschung, die hier aber keinerlei Eingang findet. In diesem Sinne stellt das Buch denn auch eine Aufforderung dar, diesen Graben durch immer neue interdisziplinäre Projekte und Forschungen zu überwinden. Ansätze dazu liefern die Autoren.

Dies führt denn auch zum letzten Punkt in der Kritik dieses überaus anregenden Werkes. Naturgemäß hat Katastrophenforschung ein hohes anwendungsbezogenes Interesse. Internationale Katastrophenforschung, vor allem aber auch Katastrophenmanagement erfordert einen hohen Grad an terminologischer Übereinstimmung, die zugleich auch Teil von internationalen rechtlichen und anderen Abkommen werden können. Die Autoren führen in diesem Lehrbuch den Leser in die anglo-amerikanisch geprägte Terminologie ein und deutschen sie zugleich ein. Der englische Begriff "vulnerability" wird dann zu "Verwundbarkeit"; ein Wort, das oft wie ein Fremdkörper wirkt. Der Begriff Risiko erscheint in unzähligen Kombinationen, von Risikogefahr über Risikoereignis zu Risikomanagement usw. Eine gewisse Logik ist dieser Definitionswut nicht abzusprechen, zugleich entsteht aber ein oft enervierendes, manchmal fast unleserliches Expertendeutsch. Definitionen ziehen Nominalisierungen an, die zwar einerseits wissenschaftliche Autorität widerspiegeln, aber andererseits auch leicht zum Selbstzweck geraten. Das liest sich dann so: "Die globalen Veränderungen [...] haben einen engen Bezug zu Naturgefahren, Verwundbarkeiten und Naturkatastrophen. Erhöhte Risiken entstehen durch eine Zunahme der Frequenz und Magnitude natürlicher gefährlicher Prozesse, der verstärkten Exposition des Menschen gegenüber diesen Prozessen und durch die Erhöhung ihrer sozioökonomischen Verwundbarkeit." (167). Schön ist das nicht, weder der Vorgang noch dessen sprachliche Darstellung. Vielleicht müssen zukünftige Katastrophenforscher solche Begriffsungetüme auswendig lernen, um sich auf internationalem Rechtsterrain zurechtzufinden, aber ob sie der Analyse wirklich dienlich sind, sei dahingestellt.

Zum Glück liefern die Autoren mit ihren vielen ausgezeichneten Fallstudien genügend Gegenbeispiele. So schreiben sie über die Krise im Sudan: "Die Krise ist aber längst eine 'normale' Katastrophe. Hier vermischen sich religiös motivierte Gründe, entwicklungspolitische Fehler, strukturelle Hindernisse und demographische Entwicklungen mit Kämpfen um Naturressourcen und Macht" (14). Eine solche Gemengelage verbirgt sich wohl in den meisten Fällen hinter dem Begriff "Verwundbarkeit". Das vorliegende Buch ist gerade durch seine offengelegten Begrenzungen und die Versuche, sie zu überwinden, ein wichtiger Beitrag, die Katastrophenforschung interdisziplinär zu öffnen. In diesem Sinne ist es mehr als ein Lehrbuch, mit dessen Hilfe man sich in die Grundlagen und die Terminologie der Katastrophenforschung einarbeiten kann. Es ist auch ein begrüßenswerter Anstoß, kritisches Denken in- und außerhalb der Wissenschaft einzuüben und in der Analyse einer oft katastrophalen Wirklichkeit anzuwenden.


Anmerkungen:

[1] Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1996.

[2] Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2001.

Werner Krauß