Gocha R. Tsetskhladze (ed.): Greek Colonisation. An Account of Greek Colonies and Other Settlements Overseas. Volume 1 (= Mnemosyne. Supplementa; Vol. 193), Leiden / Boston: Brill 2006, lxxxiii + 564 S., ISBN 978-90-04-12204-8, EUR 179,00
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Der Herausgeber bietet in der Einleitung (XXIII-LXXXIII) Erläuterungen zu terminologischen Fragen und zur Thematik dieses Sammelbandes. Er weist zunächst darauf hin, dass die Ausbreitung der Griechen in einer Reihe von Regionen des Mittelmeerraumes eigentlich nicht als Kolonisation bezeichnet werden sollte, da mit diesem modernen Terminus die Vorstellung von gezielter Okkupation fremder Territorien durch expandierende Staaten verbunden wird. Der hier für die griechische Antike relevante Begriff lautet bekanntlich apoikia ("Außensiedlung") und bedeutet sinngemäß, dass es sich um eine Siedlung handelt, die in aller Regel weit entfernt von einer Metropolis ("Mutterstadt"), aus der die Mehrzahl der Neusiedler und der Leiter (oikistes) des Kolonistenzuges stammten, gegründet worden war. Nach wie vor kontrovers diskutiert werden die Gründe für die Anlage von "Kolonien". Tsetskhladze bemerkt hierzu mit Recht, dass in den frühen Phasen der von etwa 750 bis 550/500 v. Chr. zu datierenden "Großen Kolonisation" der Griechen von einer Übervölkerung im hellenischen Mutterland keine Rede sein kann. Er betont, dass die Urbanisierung einer Siedlung im archaischen Hellas und die Polisbildung im Sinne der Entstehung von politischen Institutionen nicht zeitgleich verliefen, sondern die eigentliche Stadtwerdung später einsetzte und in den kolonialen Neugründungen zunächst andere Aufgaben wichtiger waren als die Stadtplanung. Als wichtiges Problem nennt Tsetskhladze ferner das Verhältnis zwischen griechischen Kolonisten und Einheimischen. Er warnt in diesem Kontext vor einer unreflektierten Verwendung moderner Kategorien zur Bezeichnung indigener Bevölkerungen. Dies betrifft insonderheit den Terminus "Halbfreiheit". Bedenken äußert Tsetskhladze auch gegenüber Vergleichen zwischen der mediterranen Welt des Altertums und den heutigen Formen der "Globalisierung" und schließt die gedankenreiche Einleitung mit einem Überblick über die verschiedenen Stadien und Zielorte der "Großen Kolonisation", die zur Gründung von über 230 apoikiai führte.
Die Reihe der Spezialuntersuchungen eröffnet Mogens Herman Hansen mit einer Studie zur Bedeutung des Begriffs "Emporion" in archaischer und klassischer Zeit (1-39). Seine Ausführungen bestätigen insgesamt, dass zwischen verschiedenen Formen der Emporia zu differenzieren ist. Er unterscheidet zwischen einem Emporion im Sinne einer Einrichtung zur Abwicklung des Außenhandels einer Siedlungsgemeinschaft und einem Emporion, das nicht nur als Handelsplatz diente, sondern auch eine eigene Siedlungsgemeinschaft darstellte. Wenn der Hafen der wichtigste Teil einer Siedlung war, konnte diese auch insgesamt als Emporion klassifiziert werden, während große Poleis im Binnenland gegebenenfalls weiter entfernt liegende Häfen hatten, die sich zu einem Emporion entwickelten. Zu wenig Beachtung in der Forschung haben nach Hansens Auffassung die Emporia im Binnenland gefunden, die Zentren für den Fernhandel auf dem Landweg waren.
Die weiteren Aufsätze orientieren sich cum grano salis an der Chronologie. Methodisch aufschlussreich sind die Ausführungen von Jacques Vanschoonwinkel zur mykenischen Expansion (41-113). Es wird deutlich, dass die weite Verbreitung mykenischer Objekte weder ein Beleg für eine "ägäische Kolonisation" noch für ein "Handelsimperium" der Mykener sein kann und wohl kaum als Präfiguration der "Großen Kolonisation" der Griechen zu werten ist. Vanschoonwinkel ergänzt seinen genannten Beitrag durch eine Analyse der griechischen Migration nach Kleinasien in den frühen "Dunklen Jahrhunderten" (115-141) und weist hier darauf hin, dass die einzelnen Gruppen der Neusiedler vielfach aus unterschiedlichen Regionen stammten. Allerdings differenziert er nicht klar zwischen den ursprünglichen Idiomen der verschiedenen Neusiedler und den historischen griechischen Dialekten, die sich erst später herausgebildet haben.
Mit den griechischen Wanderungsbewegungen kontrastiert Hans Georg Niemeyer die "phoinikische Expansion", die Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. einsetzte und nach seiner Auffassung nicht auf Übervölkerung zurückzuführen ist, sondern an bronzezeitliche Handelsfahrten anknüpfte (143-168). Typologisch ordnet er die phoinikischen Stadtstaaten den "palace societies" zu. Dies impliziert freilich, dass sie für die Entstehung der Polisinstitutionen kaum Bedeutung hatten.
Mehrere Aufsätze handeln von der griechischen Kolonisation in Unteritalien und Sizilien. Emanuele Greco akzentuiert in "methodologischen Überlegungen" den Aspekt der Begegnung der Kulturen (169-200), geht aber ebenso wenig wie Bruno d'Agostino in seiner Stellungnahme zu den Anfängen der griechischen Kolonisation in Italien (201-237) und Adolfo J. Domínguez im Beitrag über "Griechen in Sizilien" (253-357) auf das schwierige Problem der Größe der ersten hellenischen Siedlergruppen in den genannten Gebieten ein.
Als Sonderfälle behandeln David Ridgway frühe griechische Importe in Sardinien (239-252) und Jean Paul Morel die erst im 6. Jahrhundert v. Chr. beginnende Kolonisation der Phokaier (358-428). Ein wertvoller Beitrag zur Diskussion über antike Wirtschaftsstrukturen ist der Aufsatz von Adolfo J. Domínguez über die Einflüsse der Hellenen auf die indigene Bevölkerung der Iberischen Halbinsel (429-505). Er zeigt, dass im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. der Vertrieb griechischer Produkte an den Küsten Spaniens weitgehend durch Agenten erfolgte. Ein weites Thema behandelt John Boardman, der die Bedeutung des ostmediterranen Handelsgebietes erörtert (507-534). Abschließend stellt Hatice Pamir Ergebnisse neuer Grabungen in Al Mina vor (535-543).
Alle Beiträge enthalten ausführliche Literaturhinweise, so dass sich das Buch nicht zuletzt als Arbeitsinstrument empfiehlt. Allerdings vermisst man eine Würdigung griechischer Philosophen, die in Unteritalien gelehrt haben. Neben Pythagoras wäre hier vor allem Parmenides zu nennen, dessen These von der wesensmäßigen Zugehörigkeit des Denkens zum Sein Bedeutung für Platons Ideenlehre gewonnen hat.
Karl-Wilhelm Welwei