Heinz Duchhardt (Hg.): Nationale Geschichtskulturen - Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit. Beiträge des internationalen Symposions in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, vom 30. September bis 2. Oktober 2004, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 313 S., ISBN 978-3-515-08899-2, EUR 35,00
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Der hier vorgelegte Tagungsband bietet insgesamt sehr lesenswerte Aufsätze zu den nationalen Selbstbildern in den Niederlanden, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Ungarn, Polen und Deutschland. Im Vorwort betont der Herausgeber, dass es den Veranstaltern der Tagung darum ging, auch das europäische Potential der nationalen Geschichtsschreibung dieser Länder zu erkunden. Allerdings erfährt man dazu in der Regel sehr viel weniger als zu den Nationalgeschichten, die insgesamt besser erforscht sind.
Mit Ausnahme Deutschlands gibt es zu jeder Nation gleich zwei Aufsätze, was manchmal unnötige Wiederholungen zur Folge hat. Zu den Niederlanden bietet Arnold Labrie eine Dekonstruktion des Mythos von der 'Gewöhnlichkeit' der Niederlande als zentralem Topos des nationalen Diskurses. Robert Fruin, Petrus Johannes Blok und Johan Huizinga stehen im Mittelpunkt seines Aufsatzes, der auch andere wichtige Topoi, wie jenen vom 'Land der Mitte' und der 'Versäulung', Revue passieren lässt. Horst Lademacher hebt die Abgrenzung des historischen Identitätsdiskurses der Niederlande von dem mächtigen Nachbarn Deutschland hervor, konzentriert sich aber oft auf dieselben Historiker wie Labrie, wobei er allerdings die Zeit nach 1945 ausführlicher behandelt.
Robert J. Evans ist einer der wenigen, die die Nationalgeschichte auf ihr europäisches Potential abklopfen. Nach einigen Bemerkungen zur institutionellen Entwicklung des Faches Geschichte hebt Evans hervor, dass man sich in Großbritannien frühzeitig für die Französische Revolution und den Bonapartismus interessierte und auch aufmerksam die fachliche Entwicklung in Deutschland verfolgte. Nach dem 1. Weltkrieg kam es zu einer Entdeckung der slawischen Geschichte Osteuropas. Europäische Geschichte war allerdings für britische Historiker die Geschichte des europäischen Kontinents - Großbritannien blieb hier außen vor. Europageschichte war zudem fast immer eine Gesamtschau individueller Nationalgeschichten. Nur selten, etwa bei Christopher Dawson, ging es darum, innere Entwicklungsstränge eines als Einheit aufgefassten europäischen Erfahrungs- und Kulturraumes auszuleuchten. In seinem Parallelbeitrag zu Großbritannien thematisiert Peter Wende vier Antworten auf den Verlust der liberalnationalen Meistererzählung des 19. Jahrhunderts: a) die Geschichte der Industrialisierung, b) eine dezidiert sozialistische Geschichtsschreibung, c) ein konservativer Revisionismus, der besonders auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit erfolgreich war, sowie d) das starke Interesse britischer Historiker an der Geschichte Deutschlands und besonders des Nationalsozialismus.
Für die französische Geschichtsschreibung bieten Gérald Chaix und Rolf Reichardt kompetente Überblicke. Chaix skizziert die Entwicklung von der Verehrung der Nation zu einer problematisierenden Nationalgeschichte, die auch die dunkleren Seiten der nationalen Entwicklung thematisiert. Er kommt dabei zu einem überraschenden Schluss: "Am Ende des 20. Jahrhunderts hat die französische Geschichtsschreibung ihren nationalen Charakter verloren" (123). Warum dies so sein sollte, wird aus seinen vorhergehenden Erläuterungen nicht deutlich. Reichardt beschreibt die französische Geschichtsschreibung als ein 'Laboratorium der Kulturgeschichte', die besonders auf dem Feld der Mentalitätengeschichte und auf dem Gebiet einer Sozialgeschichte der Kultur wegweisende Forschungen angestoßen hat.
Für Italien skizziert Pierangelo Schiera, auf welche Weise sich eine eigentlich nationale Geschichtsschreibung erst unter dem Faschismus ausbildete, um dann die Nachkriegsdebatten um den Ort des italienischen Faschismus in der Nationalgeschichte Revue passieren zu lassen. Wolfgang Schieder erklärt im Anschluss daran die mangelnde Europäisierung der italienischen Zeitgeschichtsschreibung mit dem Fehlen von vergleichenden Perspektiven. Er betont die starke ideologische Lagerbildung der italienischen Historiker in der Nachkriegszeit und wählt drei lagerübergreifende Debatten, um Grundzüge der italienischen Zeitgeschichtsschreibung aufzuzeigen: a) Gramscis Thesen zur fehlenden Agrarrevolution, b) die Resistenza gegen den Faschismus, c) Renzo de Felices Interpretation des Faschismus.
Für Ungarn bietet Ignác Romsics einen soliden Überblick über die diversen Schulenbildungen des 20. Jahrhunderts, während Árpád von Klimó transnationalen Perspektiven in der ungarischen Geschichtsschreibung nachspürt, wobei er besonders die zwei großen Handbuchprojekte von Hóman-Szekfű und Ránki-Berend in den Mittelpunkt seiner Nachforschungen stellt.
Jerzy Centkowski erklärt den Gegensatz von Krakauer und Warschauer Schule in der polnischen Geschichtsschreibung und gibt einen differenzierenden Überblick über die anschließende Schulenbildung. Auch wenn Begriffe wie 'parteilich' oder 'professionell' allzu oberflächlich Verwendung finden, bietet der Aufsatz dem Leser eine gute Orientierung. Ihm zur Seite steht ein Aufsatz von Klaus Zernack, der die Rolle der Nationalgeschichte im Kampf um die Wiederherstellung und Definition der Nation im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert betont.
Abschließend gibt es nur einen Aufsatz zur deutschen Nationalgeschichte von Winfried Schulze, der betont, dass die Hinwendung zu Europa in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 seine Ursache in der nationalsozialistischen Katastrophe hatte. Schulze kontrastiert die starke geschichtspolitische Vereinnahmung der Geschichtswissenschaft nach 1918 und nach 1933 mit den Bemühungen um eine umfassende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur in der Bundesrepublik nach 1949. Schulzes Beitrag provoziert viele Fragen, z. B. danach, welche Aspekte des Nationalsozialismus denn zu welcher Zeit in der Bundesrepublik aufgearbeitet wurden oder ob Nipperdeys Idee von der Objektivität als 'regulativer Idee' wirklich als Leitidee historischer Forschung wiederzubeleben ist. Schade ist, dass es bei einem einzigen Beitrag zu Deutschland keine wirkliche Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung der DDR gibt.
Manchmal klingt in den Beiträgen des Sammelbandes das Thema des Einflusses ausländischer Historiker auf die Nationalgeschichte eines Landes an. So erinnert Labrie etwa an Geoffrey Parkers und Simon Schamas zentrale Werke zu den Niederlanden. Evans untersucht den Einfluss deutscher Historiker auf die britische Geschichtswissenschaft vor 1914, Chaix erinnert an den Widerhall deutscher historiographischer Debatten in Frankreich zum selben Zeitpunkt, und die meisten Beitragenden liefern eher vage Hinweise auf Einflüsse des 'deutschen Historismus' und des 'französischen Positivismus' auf viele einzelne nationale Historiographien in Europa. Insgesamt erwecken diese Bemerkungen beim Leser eher den Eindruck, dass eine umfassende Geschichte kultureller Transfers in der Geschichtsschreibung Europas nach wie vor auf Historiker wartet, die sich dieses Themas in systematischer Weise annehmen.
Die nationalen Überblicke leisten insgesamt viel, doch konnte sich der Rezensent nach ihrer Lektüre des Eindrucks nicht erwehren, dass es an der Zeit ist, explizit vergleichende Fragestellungen an das Thema anzulegen.[1] Wird nationale Geschichtsschreibung in nationalem Rahmen diskutiert, so bleibt es eben letztendlich dem Leser überlassen, Vergleiche zu ziehen. Da die Autoren nicht immer ähnlichen Fragestellungen nachgehen, bleibt dies mühsam und verleitet unter Umständen schnell zu Fehlschlüssen.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu das explizit komparatistisch und transnationale angelegte Projekt Representations of the Past. The Writing of National Histories in Nineteenth and Twentieth Century Europe (NHIST), das von 2003 bis 2008 durch die European Science Foundation finanziert wurde: www.uni-leipzig.de/zhsesf.
Stefan Berger