Christian Rau: Die verhandelte "Wende". Die Gewerkschaften, die Treuhand und der Beginn der Berliner Republik (= Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 588 S., 3 Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-96289-168-8, EUR 38,00
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Die Treuhand ist und bleibt ein zentraler Streitpunkt der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur an die Überführung des Staatssozialismus der DDR in den sozial eingehegten Kapitalismus der Bundesrepublik. Die Geschichtswissenschaft ist zum einen selbst Teil dieser Erinnerungskultur, zugleich hilft sie aber durch ihre wissenschaftlichen Methoden, Verzerrungen der Erinnerungskultur auszugleichen. Dies gelingt der vorliegenden Arbeit von Christian Rau, es sei hier vorweggenommen, auf vorbildliche Weise.
Es geht in seinem Buch um die Rolle der Treuhand für die Geschichte der deutschen Gewerkschaften nach 1989 und um die Handlungsstrategien der Gewerkschaften gegenüber und in der Treuhand. Die Bedeutung der Treuhand für die Geschichte der Gewerkschaften und die Bedeutung der Gewerkschaften für das Handeln der Treuhand werden in dieser Arbeit zu gleichen Teilen thematisiert.
Rau kann eindrücklich belegen, dass die Treuhand genau in den Zwischenräumen von neoliberalem Zeitgeist und 'Modell Deutschland' agierte. Insgesamt versteht er den Transformationsprozess der frühen 1990er Jahre eher in der Tradition einer stabilisierenden Krisenbewältigung, wie er für den Korporatismus des rheinischen Kapitalismus der alten Bundesrepublik, in dem die Gewerkschaften wichtige Akteure waren, charakteristisch war. In der Tat erlebten trilaterale Gesprächsformate unter den Bedingungen der besonderen Herausforderungen der Wiedervereinigung eine Renaissance wie man sie in den späten 1980er Jahren der Alt-Bundesrepublik nicht vorherzusehen gewagt hätte. Die sog. 'Ludewig-Runde' im Bundeskanzleramt mit Vertretern von Wirtschaft und Gewerkschaften sind hierfür ein gutes Beispiel.
Die Arbeit konzentriert sich in ihrer Analyse besonders auf Akteure aus DGB, IG Metall, IG CPK, und, zu geringeren Teilen, DAG, da sie allesamt durch Spitzenfunktionäre im Verwaltungsrat der Treuhand präsent waren. Nicht nur wertet Rau eine doch mittlerweile sehr umfangreiche Sekundärliteratur zu den Transformationsprozessen in Ostdeutschland aus, sondern er zieht auch viele sozialwissenschaftliche zeitgenössische Studien, die hier als historische Quellen benutzt werden, in seine Analysen mit ein. Zudem zeichnet sich seine Arbeit durch umfangreiche Archivarbeiten im Bundesarchiv (zum Treuhandbestand, sowie zu diversen Ministerien und dem Bundeskanzleramt), in den Landesarchiven von Brandenburg und Thüringen, und in den Gewerkschaftsarchiven im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn sowie im Archiv des Hauses für die Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum aus. Außerdem benutzt er die Akten des FDGB und der DDR-Ministerien im Bundesarchiv Berlin, und er konnte einen ganz spannenden Bestand zu ostdeutschen Betriebsräteinitiativen im Archiv der Robert-Havemann Gesellschaft in Berlin auswerten. Hinzu kommen noch zahlreiche Interviews mit Gewerkschaftsfunktionären, die im Verwaltungsrat der Treuhand tätig waren.
Auf breiter Archiv- und Literaturgrundlage füllt diese Arbeit eine wichtige historiografische Leerstelle, da die Treuhand-Literatur sich bislang ganz wesentlich auf staatliche Akteure fokussiert hat, während Gewerkschaften mit wenigen Ausnahmen kaum in den Blick genommen wurden. [1] Dabei gibt es durchaus wichtige Publikationen zur Geschichte der Gewerkschaften im deutschen Transformationsprozess, die ihre Rolle bereits äußerst differenziert dargestellt haben. [2] Insgesamt gibt es in der bestehenden Literatur eine weit verbreitete Vorstellung, dass gewerkschaftliche Akteure keinen entscheidenden Einfluss auf die Politik der Treuhand nehmen konnten. Bestenfalls konnten sie Sozialpläne und Auffanggesellschaften für Beschäftigte durchsetzen. Die Zahlen zur Treuhand scheinen auch für sich zu sprechen: die über 12000 Unternehmen der Treuhand wurden zu 53% privatisiert, zu 30% abgewickelt, zu 13% reprivatisiert und zu 2.5% kommunalisiert. 2.5 von 4 Millionen Arbeitsplätzen gingen dabei verloren. Dennoch kann Rau in seiner überzeugenden Analyse das Bild einer letztendlich machtlosen Gewerkschaftsbewegung im Transformationsprozess entscheidend differenzieren.
Nach einer ebenso luziden wie präzisen Einleitung, die in spannender Weise in das Thema einführt und dabei die eigenen Fragestellungen in den Forschungsstand zum Thema exzellent einbettet, gliedert der Autor seinen Stoff in fünf Großkapitel, von denen das erste Kapitel sozusagen die Vorgeschichte der Treuhand rekapituliert, indem es die Entwicklung des Modells Deutschland bis zur Wende nachzeichnet. Unter den Prämissen von sozialer Marktwirtschaft, sozialer Demokratie und Mitbestimmung entstand hier in den 1970er Jahren ein System von Strukturpolitik, das in korporatistischer Manier versuchte, den Strukturwandel in Westdeutschland zu begleiten und zu steuern. Dabei kam es in der alten Bundesrepublik, anders als etwa in Großbritannien, nur sehr begrenzt zu einer neoliberalen Wende in den 1980er Jahren, da die Regierungen Kohl in den 1980er Jahren doch sehr weitgehend an dem Selbstverständnis des Modells Deutschland festhielten.
Im zweiten Großkapitel der Arbeit werden Strukturen, Akteure und Räume ostdeutscher Gewerkschaftspolitik vorgestellt. Eindrücklich geht der Autor auf die sich wandelnden sozialen Ordnungen in den ostdeutschen Betrieben im Umbruch von 1989/90 ein und betont insbesondere die Vorstellungen von Demokratisierung, die ihnen zugrunde lagen. Das Verhältnis der westdeutschen Gewerkschaften zur ostdeutschen Revolution wird ebenso beleuchtet, wie die Beziehungen zwischen DGB und FDGB. Ausführlich widmet sich Rau auch den Organisationsdebatten in den DGB-Gewerkschaften, die viel Konfliktpotential hatten. Im Anschluss analysiert er den Gewerkschaftstransfer von West und Ost als Resultat lokaler Aushandlungsprozesse, bei denen zwischen Ost und West unterschiedliche Gewerkschafts- und Mitbestimmungskulturen mühevoll ausgehandelt werden mussten.
Im dritten Kapitel der Arbeit tritt Rau energisch all denjenigen Stimmen entgegen, die die Gewerkschaften als unterlegenen Gegenpart zur Treuhand stilisieren und betont, wie weitgehend die Gewerkschaften sich bemühten, konstruktiv mitzubestimmen, welche Wege von der Treuhand beschritten wurden. Die Strukturen des korporatistischen Modell Deutschland bewährten sich hier ganz überwiegend. Rau diskutiert sehr differenziert gewerkschaftliche Handlungsspielräume innerhalb der Treuhand und beschreibt ihr nicht immer erfolgreiches Bemühen, an die westdeutsche Strukturpolitik der 1970er und 1980er Jahre anzuknüpfen.
Das vierte Kapitel beschreibt dann ausführlich, wie die Gewerkschaften besonders die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Treuhand mitgestalten konnten. Sozialpläne und Auffanggesellschaften für die arbeitslos gewordenen Beschäftigten kamen weitgehend als Ergebnis von konzertierten Aktionen und unter Beteiligung von Gewerkschaftsvertreter:innen zustande. Daran schließt sich das fünfte und letzte Großkapitel der Arbeit nahtlos an, in dem die Rolle der Gewerkschaften in der Strukturpolitik der Treuhand beschrieben wird. Hier werden besonders Konflikte zwischen einer eigenen ostdeutschen Betriebsräteinitiative und den Gewerkschaften analysiert. Schließlich wird auch der Einfluss der Gewerkschaften auf die Tarifpolitik der Treuhand sehr genau nachgezeichnet.
Die abschließende, fast dreißigseitige Bilanz der Arbeit fasst die differenzierten Ergebnisse der Arbeit vorbildlich zusammen und unterstreicht noch einmal die erhebliche Bedeutung der deutschen Gewerkschaften für die soziale Ausgestaltung der Transformation, die sich mit dem Namen der Treuhand verbindet. Besonders die von den Gewerkschaften eingeforderte regionale Strukturpolitik spielte hier eine große Rolle.
Insgesamt handelt es sich bei dem Buch von Christian Rau um eine herausragende Monographie, die eine wichtige Lücke in der Transformationsforschung der Zeit nach 1989/90 schließt und auf Jahre hinaus ein Standardwerk in dieser Literatur sein wird. Die wechselvolle und ambivalente Beziehungsgeschichte von Treuhand und Gewerkschaften wird hier mit großem Fingerspitzengefühl für differenzierte Wertungen analysiert. Die gute Lesbarkeit der Arbeit verbindet sich mit einer vorbildlichen analytischen Stärke und einer interpretatorischen Kraft, die auf ganzer Linie überzeugen kann. Es handelt sich bei diesem Buch um bundesrepublikanische Zeitgeschichte auf höchstem Niveau.
Anmerkungen:
[1] Mathieu Denis: Labor in the Collapse of the GDR and Reunification. A Crucial, Yet Overlooked Actor, Berlin 2007.
[2] Siehe etwa stellvertretend den Sammelband von Detlev Brunner / Michaela Kuhnhenne / Hartmut Simon (Hgg.): Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation, Bielefeld 2018.
Stefan Berger