Rezension über:

Ingo Loose / Christian Rau / Michael Schwartz (Hgg.): Bürgerlichkeit in Diktaturen. Perspektiven auf die Kulturgeschichte europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Berlin: Metropol 2024, 264 S., ISBN 978-3-86331-746-1, EUR 24,00
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Rezension von:
Philipp Müller
Hamburger Institut für Sozialforschung
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Müller: Rezension von: Ingo Loose / Christian Rau / Michael Schwartz (Hgg.): Bürgerlichkeit in Diktaturen. Perspektiven auf die Kulturgeschichte europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Berlin: Metropol 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 3 [15.03.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/03/39442.html


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Ingo Loose / Christian Rau / Michael Schwartz (Hgg.): Bürgerlichkeit in Diktaturen

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Als der bekannte Redakteur der Exilzeitschrift "Die neue Weltbühne" Hermann Budzislawski im Herbst 1948 nach Deutschland zurückkehrte und Professor für internationales Pressewesen an der Universität Leipzig wurde, bezogen er und seine Frau ein großzügiges Wohnhaus in der Leipziger Innenstadt und entwickelten im Erwerb von Biedermeier-Möbeln für ihr neues Heim kunsthistorische Expertise. Mit großzügigem Gehalt, Dienstmädchen und Fahrer konnten die Budzislawskis bald einen bürgerlichen Lebensstil in der DDR aufleben lassen, der ihnen in den vorangegangenen Jahren des Exils nicht möglich gewesen war. Vergleichbare Formen eines bürgerlichen Habitus fanden sich auch im sozialistischen Polen, wie etwa in der Familie des Soziologen Zygmunt Bauman. In Warschau und anderen polnischen Städten der 1950er und 1960er Jahre verstanden sich die Angehörigen dieses Milieus als aktiver Teil im Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und pflegten dabei zugleich einen elitären Lebensstil, der u.a. große Wohnungen und Personal, aber auch den Besuch angesehener Schulen und die Mitgliedschaft in besonderen Diskussionsklubs einschloss.

Die Beiträge von Daniel Siemens und Agnes Arndt zum vorliegenden Band, denen diese Beispiele entnommen sind, weisen auf die spannungsvolle Verwicklung von bürgerlichen Lebensformen und anti-bürgerlichen Zielvorgaben in autoritären europäischen Staaten des 20. Jahrhunderts. Angesichts der Tatsache, dass die vergleichende Bürgertumsforschung - einst ein Flaggschiff der Geschichtswissenschaften in Deutschland - der Frage nach der Rolle des Bürgertums im Aufstieg des Nationalsozialismus erhebliches Gewicht zumaß, heben die Herausgeber des Bandes zu Recht hervor, dass die geringe Zahl an Untersuchungen zu Bürgerlichkeit in den deutschen und europäischen Diktaturen verwundert. Weder die nationalsozialistische noch die sozialistische anti-bürgerliche Ideologie spiegelten die Realität ihrer Gesellschaften wider, obgleich beide Regime im Zuge der politischen Rahmung und Beschränkung von Öffentlichkeit bürgerliche Identitäten unter Veränderungsdruck setzten. Moritz Föllmer und Bernd Weisbrod haben bereits vor einigen Jahren auf die Vielfalt der Dissonanzen und Kompromisse aufmerksam gemacht, die das bürgerliche Verhaltensrepertoire in der Zeit des 'Dritten Reichs' bestimmten und transformierten. [1] Die Herausgeber des Bandes fordern vor diesem Hintergrund, die Frage nach der Geschichte von Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert nicht auf die Maßgaben bürgerlicher Lebensformen des 19. Jahrhunderts zu reduzieren, sondern vielmehr die Transformation und Dynamik bürgerlicher Werte in der Vergesellschaftung von Mittelschichten ins Zentrum zu stellen. Dabei weiten sie den Blick auf den Autoritarismus des 'Dritten Reichs' und der DDR aus und beziehen ergänzende Studien zur Türkei, Polen, Ungarn und Portugal mit ein.

Es ist kaum nötig zu erklären, dass diese Auswahl nicht dem Versuch eines systematisch angelegten Vergleichs, sondern den unterschiedlichen Forschungsinteressen der Beiträge geschuldet ist. Interessante Einblicke in die Transformationsgeschichte von Bürgerlichkeit unter den Bedingungen europäischer Diktaturen bietet der Band allemal und stößt daran anschließende Fragen an. Neben den bereits erwähnten Kapiteln von Arndt und Siemens gilt dies etwa für die Rekonstruktion verschiedener Facetten von Bürgerlichkeit, die Michael Schwartz anhand des Schriftstellers und Drehbuchautors Erich Ebermayer vorstellt. Ebermayer entstammte einer großbürgerlichen Juristenfamilie und verkehrte zu Weimarer Zeiten mit Thomas Mann und Stefan Zweig. Als Homosexueller und Republik-Anhänger geriet Ebermayer nach 1933 ins Visier der Gestapo, entkam jedoch durch die Protektion seines Cousins, dem Chef der Reichskanzlei Philipp Bouhler. Bouhler verhalf Ebermayer auch zu Kontakten in die NS-Kulturelite und förderte seinen baldigen Erfolg als Drehbuchautor von Unterhaltungsfilmen - gekrönt vom "Nationalen Filmpreis" 1936. Einerseits distanzierte Ebermayer sich privat von Rassegesetzen und Novemberpogrom und nutzte sein bildungsbürgerliches Selbstverständnis zur Abgrenzung von NS-Funktionären auf Abendgesellschaften. Andererseits glaubte er eine verwandte Hochschätzung der sozialen Rolle des Künstlers in der NS-Kulturpolitik zu erkennen und passte seine künstlerischen Ambitionen der populären nationalsozialistischen Unterhaltungsindustrie an.

Die Nachzeichnung der biographischen Spannungen, in die bürgerliche Identitäten von Ebermayer, Budzislawski oder des Philologen Victor Klemperer (Blanka Koffer im Band) in Nationalsozialismus und DDR gerieten, machen zugleich deutlich, dass eine zusätzliche Schärfung der Perspektive auf die Historizität der politischen Dimension von Bürgerlichkeit für viele Beiträge hilfreich gewesen wäre. Angesichts des Umstandes, dass Bürgerlichkeit nicht zuletzt auf ein politisches Projekt zurückgeht und Diktaturen gerade diese Dimension bürgerlicher Formen der Vergesellschaftung berühren (und verunsichern), scheinen die von Agnes Arndt am Ende ihres Beitrags aufgeworfenen Fragen zentral: Was bedeutet die Anpassung an nicht-demokratische Verhältnisse für überkommene Werte wie bürgerliche Freiheit und Autonomie? Was bedeutet eine Transformation der Praxis von Bürgerlichkeit im autoritären Kontext des 20. Jahrhunderts für das politische Verhältnis zum Staat? Arndt selbst erklärt in ihrem Beitrag, wie das bürgerliche Milieu polnischer Städte der 1950er Jahre mitverantwortlich für jene gesellschaftlichen Ressourcen war, die in der Opposition der 1970er und 1980er Jahre zum Ausdruck kamen.

Den Herausgebern ist zuzustimmen, wenn sie in ihrer aufschlussreichen Einleitung gegen das Aufspüren bürgerlicher Restmilieus in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts argumentieren - eine Vorstellung, die bereits im Begriff den Gedanken transportiert, Bürgerlichkeit sei eine feststehende Sozialformation vorangegangener Zeiten. Genauere Beobachtungen zur politischen Dimension der Transformation von Bürgerlichkeit anhand der im Band vorgestellten Fallstudien würden jedoch auch Rückschlüsse auf eine längerfristige Rekonstruktion der Geschichte von Bürgerlichkeit zulassen, die dann weder vor den Grenzen von nicht-demokratischen Regimen haltmachen noch innerhalb der Grenzen von Diktaturen des 20. Jahrhunderts stehenbleiben müsste. Auf diese Weise würden nicht zuletzt Fragen der historischen Forschung aufgenommen und weitergetragen, deren Bearbeitung in den letzten Jahrzehnten auf eigentümliche Weise in den Hintergrund getreten ist. Diesbezüglich bieten die Beiträge des Bandes vielfache Anregungen, die in an sie anschließenden Untersuchungen weiterzuführen und zu vertiefen wären.


Anmerkung:

[1] Bernd Weisbrod: Schlussdiskussion, in: Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?, hg. von Norbert Frei, Göttingen 2018, 382-383; Moritz Föllmer: Culture in the Third Reich, Oxford 2020, 163-166.

Philipp Müller