Christian Rau: »Nationalbibliothek« im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945-1990, Göttingen: Wallstein 2018, 727 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3199-0, EUR 54,90
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Die Geschichte von Institutionen erfreut sich großer Beliebtheit. Der Impuls kommt oft von den Einrichtungen selbst, etwa durch Bundesministerien zur "Aufarbeitung" ihrer Vergangenheit in der Nachkriegszeit. Nun hat die Deutsche Nationalbibliothek die Geschichte ihrer Vorgängerinstitution, der Deutschen Bücherei in Leipzig, in beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts in zwei Studien erforschen lassen. Dabei hat sich Christian Rau mit der Bibliothek in der SBZ/DDR auseinandergesetzt.
Das Buch verbindet eine chronologische Gliederung mit einem thematischen Zugriff. Nach einem Einleitungskapitel über die Deutsche Bücherei vor 1945 unterteilt der Autor die Geschichte der Bibliothek in der SBZ/DDR in vier Phasen, die er entlang ausgewählter Aspekte beleuchtet. Dazu gehören neben dem politischen Auftreten der Bibliothek, ihrer Personalpolitik und dem Benutzeralltag auch richtiger- wie erfreulicherweise die Beziehungen zur Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main und zu den westdeutschen Verlagen.
In den ersten beiden Abschnitten beschäftigt sich Rau mit der Deutschen Bücherei bis zum Mauerbau im August 1961. Er konstatiert, dass man in der SBZ trotz der Rhetorik von der "Massenbibliothek" sowjetischen Typs an die bestehenden Traditionen der wissenschaftlichen Bibliotheken samt entsprechendem Berufsbild anknüpfte. Daher ging auch mit dem Personalaustausch im Zuge der Entnazifizierung kein inhaltlicher Neuanfang in der Deutschen Bücherei einher. Die Kontinuität erklärt Rau mit dem Einfluss des langjährigen Generaldirektors der Deutschen Bücherei Heinrich Uhlendahl auf die Bibliothekspolitik der zuständigen deutschen Verwaltungen. In diesem "bürgerlichen" Umfeld tat sich die SED schwer, sodass es bis Anfang der 1960er Jahre dauerte, bis alle Führungsstellen mit Parteimitgliedern besetzt waren.
Prägend für die Entwicklung der Deutschen Bücherei in der SBZ/DDR war die Entstehung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main im Jahr 1946. Mit ihr konkurrierte Leipzig bei der Sammlung von Büchern und der Erstellung von Bibliografien, die der Buchhandel, Verlage und Bibliotheken für Werbe- und Informationszwecke bezogen. Zudem nutzten beide Häuser im deutsch-deutschen Systemkonflikt gezielt den Gegenspieler, um ihre (materiellen) Vorhaben gegenüber dem eigenen Staat zu erreichen.
Zugleich setzte die Deutsche Bücherei die seit ihrer Gründung bestehende Rivalität mit der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin (Ost) um den Anspruch der "Nationalbibliothek" fort und diente sich dabei in besonderem Maße der SED an. Rau verdeutlicht, dass mit der Formel nicht nur ideelles Prestige einherging, sondern sie sich auch zur Mobilisierung von materiellen Ressourcen gegenüber dem Staat eignete. Offen bleibt allerdings die Frage, welche Bedeutung das Selbstverständnis als "Nationalbibliothek" für die Belegschaft der Deutschen Bücherei hatte, beispielsweise im Sinne einer gemeinschaftsstiftenden Norm.
Die dritte Periode umfasst die 1960er Jahre, in der die Deutsche Bücherei ganz im Zeichen der damaligen Wissenschafts- und Technikbegeisterung zu einer "modernen Großbibliothek" werden sollte. Die Realität war aber eine andere, wie Rau plausibel ausführt. Ein Problem war die langsame Überalterung des Personals, da sich kaum jüngere Angestellte angesichts der unattraktiven Konditionen - hohe Arbeitsbelastung bei geringer Bezahlung - fanden. Zudem konnte die Deutsche Bücherei im Vergleich zur Deutschen Bibliothek keine konkurrenzfähige EDV-Infrastruktur zur Erstellung der Bibliografien aufbauen.
Aus Lesersicht war die Deutsche Bücherei nach der Grenzschließung im August 1961 das populäre "Loch in der Mauer". Dass die meisten westdeutschen Verlage trotz brancheninternen Diskussionen weiter Bücher nach Leipzig lieferten, hatte Rau zufolge zwei Gründe. Neben politischer Einflussnahme ging es ihnen um ökonomische Interessen, bot doch die Listung in der Leipziger Bibliografie die Chance auf Absatz im "sozialistischen Ausland". "Wissenskontrolle", so Rau treffend, übten Bibliothekare und Staatssicherheit über das berühmte "Sperrmagazin" aus, für die dort aufbewahrten benötigten Benutzer einen konkreten Forschungszweck. Interessanterweise spielten bei der Aussonderung aber nicht allein politische Kriterien eine Rolle; das "Sperrmagazin" bot den Bibliothekaren auch die Möglichkeit, Bücher vor Schäden zu schützen.
Im vierten Abschnitt behandelt Rau die Deutsche Bücherei in der Ära Honecker. Der für damalige DDR typische Ressourcenmangel belastete auch die Arbeitsabläufe in der Bibliothek, woraufhin die Leitung mit informellen Praktiken versuchte, den Schwierigkeiten Herr zu werden. Gleichzeitig bekam Leipzig den technischen Vorsprung der Deutschen Bibliothek zu spüren, deren aktuellere Bibliografien in der Buchbranche immer gefragter waren. Trotz dieser Krisensymptome verwahrt sich Rau zu Recht gegen die naheliegende Deutung vom beständigen Niedergang der Deutschen Bücherei. Dabei verweist er auf die Bestrebungen der zuständigen Ministerien in den 1980er Jahren, das Bibliothekswesen der DDR besser auszustatten.
Eine Stärke des Buches ist es, dass es einseitige Urteile vermeidet, sondern die Vielschichtigkeit der verschiedenen Themen herausarbeitet und sie souverän in den historischen Kontext einordnet. Seine Thesen belegt Rau mit zahlreichen Beispielen, was die Studie anschaulich macht. Gleichwohl wäre eine stärkere Konzentration für die Stringenz der Argumentation dienlicher gewesen. Zudem kommt es gliederungsbedingt zu inhaltlichen Wiederholungen, da einzelne Entwicklungen über den jeweiligen Zeitabschnitt hinweg reichen.
Trotz dieser Schwächen hat Christian Rau ein aufschlussreiches, gut lesbares Buch verfasst. Unter Berücksichtigung institutioneller Eigenheiten aus der Zeit vor 1945 zeigt es auf differenzierte Weise die Verflechtungen zwischen Deutscher Bücherei und SED-Diktatur im Kontext des deutsch-deutschen Systemkonflikts. In dieser Hinsicht stellt die Studie einen wichtigen Beitrag zur Institutionengeschichte des 20. Jahrhunderts dar.
Bertram Triebel