Sina Steglich: Zeitort Archiv. Etablierung und Vermittlung geschichtlicher Zeitlichkeit im 19. Jahrhundert (= Campus Historische Studien; Bd. 79), Frankfurt/M.: Campus 2020, 433 S., ISBN 978-3-593-51234-1, EUR 68,00
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Immer wieder werden in der Geschichtswissenschaft "Turns" proklamiert, um dem zu Leibe zu rücken, was dessen Verächter mit pejorativem Unterton gerne als "Historismus", "Geschichtspositivismus", "Quellenpositivismus" oder "Archivpositivismus" bezeichnen. Solche Verdikte sollen zumeist Historiker*innen treffen, die gegenüber den unterschiedlichsten geschichts- oder sozialwissenschaftlichen Theoriebildungen das "Vetorecht der Quellen" ins Felde führen; dieser bisweilen missverstandene Begriff geht wahrscheinlich auf den Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) zurück, der zu seiner Zeit ein fachlicher Außenseiter im besten Sinne des Wortes war. Zu den vehementesten Kritikern des "Historismus" zählen die Verfechter poststrukturalistischer und postmoderner Theorien. Wesentliche Prämissen von deren Ansätzen teilt offenkundig auch Sina Steglich, für die die moderne Geschichtswissenschaft eine "nach wie vor dem Historismus verpflichtete[] und zuweilen auch noch dem Archiv als Authentizitätsort verfallene[] Disziplin" ist (376). Archive sieht die Autorin, die mit der vorliegenden Studie 2018 an der Universität Mannheim promoviert wurde, als "fundamentale[] Instanz historiographischer und Zeiterkenntnis [...], die dringlich auf ihre eigenen historisch-kulturellen Voraussetzungen zu befragen ist." (375)
Steglichs Untersuchungszeitraum sind die Jahre "zwischen etwa 1860 und 1920", der von ihr "als jene Kernphase angenommen [wird], in der sich archivische Entwicklungen und die Virulenz des Themas Zeit überschnitten." (31). Archive hätten, so Steglich, wenn auch nicht unbedingt intentional, aktiv und bewusst, eine geschichtliche Zeitlichkeit etabliert und begründet (vgl. 373). Die am historistischen Ideal, die Geschichte "von einem temporalen Ruheposten" (371) aus zu betrachten, orientierte theoretische Fundierung und praktische Ausgestaltung des Archivs sei die Reaktion auf eine krisenbewusst wahrgenommene Zeit gewesen. Durch Prozesse, die im 19. Jahrhundert angelegt worden seien und sich um 1900 gebündelt hätten, sei die Zeit eingehegt und wieder als Orientierung stiftende Größe fundiert worden (vgl. 374). Das Archiv sei von den Zeitgenossen als scheinbares Abbild der Überlieferungsrealität und damit als authentischer Zeitort wahrgenommen worden, der dem historistischen Ideal der Zeitenthobenheit entsprach. Steglichs Interpretation des Archivs ist u.a. inspiriert von einem der Altmeister der Dekonstruktion, Jacques Derrida (1930-2004), konkret von dessen 1995 - nicht 2008, wie es auf Seite 156 in FN 6 heißt - erschienenen Buch "Mal d'Archive. Une Impression freudienne" (dt. "Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression." Übers. v. Hans-Dieter Gondek u. Hans Naumann, Berlin 1997), wobei sie sich offenkundig hier mehr auf Knut Ebelings Buch "Wilde Archäologien, Band II" (2016) gestützt hat. Ferner ist ihr Michel Foucault (1926-1984) ein wichtiger Stichwortgeber.
Im Kern geht es Steglich darum, die Vorstellung von der Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu dekonstruieren. Im 19. Jahrhundert habe sich eine geschichtliche Zeitlichkeit mit dem Ziel einer temporalen Integration nach innen und der Konstruktion einer nationalen Distinktion etabliert, da Zeit als Geschichte gerade keine universell standardisierbare Einheit sei. Es müsse deshalb darum gehen, gerade die Hybridität der Geschichte der Zeit zu untersuchen. Steglich folgt hier einer sehr typischen konstruktivistischen Forderung, nämlich die überkommenen Überzeugungen und Narrative der Aufklärung und der Moderne hinter sich zu lassen, traditionell unumstrittene bzw. gründlich oder auch kontrovers definierte Begriffe wie Wahrheit oder Vernunft auflösen in scheinbar unzugängliche, im Kern aber doch axiomatische Begrifflichkeiten wie Macht, Diskurs oder "Differance" / "Differänz". Steglich bekennt sich in Anlehnung an Carolin Rothauge zu einem "Temporal Turn". Es sei notwendig, "am konkreten Beispiel die Ausstattungsformen, den politischen Einsatz und die jeweilige soziokulturelle Reichweite unterschiedlicher Formen von Zeitwissen nachzuvollziehen und damit zuallererst zu erörtern, wann welche 'Zeit' von wem und wozu zu etablieren versucht wurde." Dass damit auch ein nicht geringes Quellenproblem verbunden ist, gesteht Steglich zu. Sie wendet sich vehement gegen die "subkutan präsente Überzeugung, dass Geschichte eine homogene und lineare Geschichte sei und diese eine, wenn nicht die temporale Leitorientierung darzustellen vermöge" (alles 378f.). Sie steigert diese Aussage noch, indem sie postuliert, dass die historistische Gebundenheit des Historikers an die Annahme eines linearen Zeitverlaufs noch eine hegemoniale Position sei (vgl. 379). Nimmt Steglich hier nicht um der dramatischen Wirkung willen arg theatralisch einen Pappkameraden ins Visier? Wenn ihre These wirklich stimmen würde, müsste die große Mehrheit der historischen Lehrstühle an deutschen Universitäten personell anders besetzt sein.
Dass einer Studie, die sich (auch) mit Archivgeschichte beschäftigt, die Auswertung entsprechender Bestände zugrunde liegt, liegt auf der Hand. In der Tat hat Steglich insbesondere Akten der Archives nationales (Paris), des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (München), des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (Berlin) sowie der National Archives (Kew/London) verwendet; hinzu kommen noch (in kleinerem Umfang) weitere Archivbestände, etwa der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Berlin), des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (Wien), der Bodleian Library (Oxford) und des Bundesarchivs (Berlin-Lichterfelde). In den Blick genommen wird von Steglich insbesondere die staatliche Überlieferung im engeren Sinn, individuelle Zeugnisse von Akteuren sowie publizierte Quellen, v.a. Handbücher und Periodika. Jeder, der in einem Archiv geforscht und gedruckte Quellen ausgewertet hat, wird ermessen können, dass die Analyse derart heterogener und umfangreicher Bestände ein anspruchsvolles Unterfangen ist. Steglichs Herangehensweise an diese Herausforderung darf man als typisch für konstruktivistisches Forschen bezeichnen: Sie schreibt, dass die drei Quellengruppen "nicht etwa auf Vollständigkeit dokumentarisch gesichtet und ausgewertet" worden sein, sondern vielmehr "systematisch im Hinblick auf thematische Sonden, anhand derer die Argumentation aufgebaut ist." (60) Diese hübsche bildhafte Formulierung kann wohl nicht anders verstanden werden, als dass der theoretische Überbau der Arbeit die Auswahl der konkreten Quellen erheblich vorstrukturiert hat. Aus "archivpositivistischer" Sicht, um diesen Begriff einmal werturteilsfrei zu verwenden, ist eine solche Vorgehensweise deshalb problematisch, weil sie die Frage impliziert, ob hier etwa nur solche Quellen ausgewählt wurden, die zur a priori feststehenden Theorie passen. Es fällt denn auch auf, dass die Heterogenität der Quellen in einem gewissen Gegensatz steht zur scheinbaren Eindeutigkeit der Ergebnisse der Studie. Ein Beispiel dafür: Die bayerischen Bestände machen quantitativ einen beträchtlichen Anteil der von Steglich identifizierten Archivbestände aus. Dennoch werden die Besonderheiten des bayerischen Archivwesens in der Arbeit nicht recht deutlich. Bayern besaß seit 1812 ein eigenes "Königlich Bayerisches Allgemeines Reichsarchiv", das 1921 im noch heute bestehenden Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufging. Das Reichsarchiv hatte nicht zuletzt die Aufgabe, einen Beitrag zu leisten zur Ausbildung einer spezifisch bayerischen (Reichs-)Identität, durch die der Partikularismus der einzelnen Landesteile, aus denen das Königreich zwischen 1802 und 1816 entstanden war, überwunden werden sollte. Diese Tatsache passt recht gut zu Steglichs These von der Konfiguration des Archivs im Rahmen des Nationalen, aber eben bezogen auf Bayern und nicht auf Deutschland, das bekanntlich bis 1866 ein Staatenbund war und auch nach 1867/1871 bis zur Gründung des (deutschen) Reichsarchivs in Potsdam (1919) im Archivwesen keine nationale Zuständigkeit kannte. Auch danach war das deutsche Archivwesen, sieht man von den Sonderfällen "Drittes Reich" und DDR ab, stets föderativ organisiert, die Archive der Länder sind bis heute keine nachgeordneten Behörden des Bundesarchivs. Insofern passt die Vorstellung von einer engen Bindung des Archivs an nationalstaatliche Verwaltungsstrukturen und des damit verbundenen Gewinns an Legitimität für den Nationalstaat, indem dessen Konstruktion historisch unterfüttert wurde, auf Deutschland nur bedingt. Selbst wenn man die erhebliche Bedeutung Preußens für die Entstehung eines kleindeutsch-preußischen Nationalbewusstseins in Rechnung stellt, so muss doch festgehalten werden, dass die ganze Entwicklung wesentlich komplexer war, als die Formulierung "Konfiguration des Archivs im Rahmen des Nationalen" (374) suggeriert. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Steglich zur Untermauerung ihrer These, ohne dies zu kontextualisieren, aus einer Denkschrift des damaligen Generaldirektors der Staatlichen Archive in Bayern Otto Riedner zitiert, die das Datum 7. Juni 1933 [!] trägt (vgl. 152, FN 125), als Bayern von den Nationalsozialisten bereits gleichgeschaltet und die bayerische Archivverwaltung gerade dem von Hans Schemm (NSDAP) geführten Kultusministerium unterstellt worden war. Überhaupt muten manche Erklärungsmuster Steglichs seltsam ahistorisch an, etwa, wenn sie die unterschiedlichen Sperrfristen in Archiven um 1900 als Ausdruck vorhandener oder fehlender Liberalität wertet (vgl. 136 f.). Ihr kommt anscheinend gar nicht in den Sinn, dass dies auch und vor allem etwas zu tun haben könnte mit unterschiedlichen Staatstraditionen respektive wichtigen historischen Zäsuren: So in Preußen die Selbstkrönung Kurfürst Friedrichs III. zum König in Preußen 1701 (deshalb das Jahr 1700), in Dänemark der Beginn der aufgeklärten Reformpolitik seit 1751 (deshalb das Jahr 1750), in den Niederlanden 1813 als das Jahr der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit nach der napoleonischen Herrschaft, in Italien 1815 als das Jahr, in dem das territorial wiederhergestellte Königreich Sardinien-Piemont auf dem Wiener Kongress die vormalige Republik Genua erwarb, was retrospektiv als Einstieg in die italienische Einigungspolitik interpretiert werden konnte, Bayern 1801, als dieses im Frieden von Lunéville seine linksrheinischen Gebiete verlor und damit der Fokus auf Territorialgewinn rechts des Rheins gerichtet wurde, was den Aufstieg zum Königreich ermöglichte.
Zusammenfassend gesteht der Rezensent gerne ein, dass er etwas ratlos vor Steglichs zweifellos fleißiger Studie steht. Cui bono? Der elaborierte Code, der den Text durchzieht, suggeriert zwar exzellente Wissenschaftlichkeit, hat aber gleichzeitig die Funktion eines Soziolekts, an dem sich Gleichgesinnte erkennen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn "Zeitort Archiv" künftig in vielen einschlägigen Einleitungen und Forschungsberichten eifrig und zustimmend zitiert wird. Aber ob das Werk deshalb auch wirklich gelesen wird? Man möchte fast frei nach Bert Brecht aufseufzen: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen // Den Vorhang zu und viele Fragen offen."
Matthias Stickler