Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix (Hgg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte - Theorie - Praxis (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa; Bd. 12), Göttingen: Wallstein 2007, 454 S., ISBN 978-3-89244-809-9, EUR 39,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Christina Antenhofer / Lisa Regazzoni / Astrid von Schlachta (Hgg.): Werkstatt Politische Kommunikation. Netzwerke, Orte und Sprachen des Politischen, Göttingen: V&R unipress 2010
Bettina Noak (Hg.): Wissenstransfer und Auctoritas in der frühneuzeitlichen niederländischen Literatur, Göttingen: V&R unipress 2015
Annette Hennigs: Gesellschaft und Mobilität. Unterwegs in der Grafschaft Lippe 1680 bis 1820, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2002
Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Beiträge der Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts vom 3. bis 5. Oktober 2002 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Einige Aufsätze wurden zusätzlich aufgenommen. Im Mittelpunkt des Interesses - so York-Gothart Mix in der Einführung - standen die Einsichten, dass einige frühere theoretische Entwürfe zur Zensurproblematik (u.a. von Jürgen Habermas, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Ulla Otto) heute als überarbeitungsbedürftig zu betrachten seien und dass die unterschiedlichen Perspektiven von Literaturwissenschaftlern, Rechtshistorikern und Mediengeschichtlern auf den Gegenstand synchronisiert werden sollten. Zudem wurden Referenten beauftragt, die alten Klassiker der Zensurtheorie (Gottfried Wilhelm Leibniz, Carl Gottlieb Svarez, Joseph von Sonnenfels, Immanuel Kant, Johann Georg Schlosser, Gotthold Ephraim Lessing, Franz Karl Hägelin) erneut zu studieren und vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsentwicklung zu bewerten. Der Blick auf die Frühmoderne erschien auch deshalb als notwendig, weil gegenüber der intensiven neueren Erforschung der Zensurpraxis des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Rückstand erkennbar ist.
Die Beiträge sind in vier Themenblöcken arrangiert. Im ersten Block stehen die "Institutionen" im Vordergrund. Jürgen Wilke untersucht die Pressezensur im Alten Reich. Als das Zeitungswesen im frühen 17. Jahrhundert entstand, wurde das kirchen- und reichsrechtlich fundierte Zensurrecht analog angewandt. In der Praxis wurde die Zensur auf Reichsebene (Reichshofrat; Frankfurter Bücherzensor) und auf Territorialebene ausgeübt, organisatorisch und hinsichtlich der Zensurintensität herrschten große Unterschiede. Klaus Beyrer stellt die nachrichtendienstliche Postkontrolle der Familie Thurn und Taxis im kaiserlichen Auftrag vor. Vom 17. bis 19. Jahrhundert verfügten die Habsburger zudem über exzellente Experten der Kryptographie, was ihnen sowohl im Alten Reich als auch im Metternich-Europa erhebliche Vorteile verschaffte. Ernst Fischer arbeitet anhand von Verlegerkorrespondenzen die faktischen Grenzen der Zensur im Aufklärungsdeutschland auf. Sie resultierten vor allem aus der ökonomischen Eigenbedeutung der Verleger und Drucker, aber auch aus der schieren Masse der Druckproduktion, die ohne eine personelle Ausweitung der Zensorenstellen nicht zu bewältigen war. Martin Papenheim nimmt die kirchliche Zensur in den katholischen Territorien in den Blick. Er unterscheidet zwischen den römischen Stellen (Hl. Inquisition, Indexkongregation) und den Zensurstellen, die die deutschen Bischöfe selbst einrichteten. Es zeigte sich, dass die zentrale Willensbildung von oben vielfach durch konkurrierende Vorstellungen zwischen Behörden, Dienststellen und einzelnen einflussreichen Amtsträgern konterkariert wurde. Peter Höyng stellt hinsichtlich der Theaterzensur fest, dass zwischen einer repressiven Zensur der höfischen Obrigkeiten und einer "subventionierenden" der bürgerlichen Eliten unterschieden werden muss; letztere wollte das Theater zu einer "Sittenschule" werden lassen.
Der zweite Block hat "Zensurdiskurse" zum Gegenstand. Clemens Schwaiger konstatiert "Denkverbote" und "Denkfaulheit" bei den aufgeklärten Autoren und weist auf den wenig bekannten Umstand hin, dass die spätaufklärerische "Pressefreiheit" in ihrer Konzeption der schon lange zuvor geforderten "Freiheit zu philosophieren" (libertas philosophandi) nachfolgte, wie sie von Christian Wolff und später von Immanuel Kant ausformuliert worden war. Klaus Bohnen untersucht Reflexionen von Gotthold Ephraim Lessing, wie institutionelle Zensur, Zensur durch die gelehrten Zeitgenossen und eigene Vorsicht (Selbstzensur) selbst bei einem überzeugten Aufklärer zusammenwirkten. Der Schriftsteller, Theaterkritiker und Bibliothekar setzte sich für die Erhaltung auch zensierter Bücher ein, um sie dem Urteil der Nachwelt zu erhalten, unabhängig von ihrer Würdigkeit. Hans-Jürgen Lüsebrink schreibt über französische Erfahrungen mit der Zensur am Beispiel von Denis Diderot und Guillaume-Thomas Raynal. Während Diderot äußerst vorsichtlich operierte, um trotz negativer Erfahrungen Spielräume für Arrangements mit der französischen Bücheraufsicht auszuloten, suchte Raynal die Konfrontation und das Exil, profitierte aber von dadurch gesteigerter Bekanntheit. Simone Zurbuchen untersucht die preußische Zensur der 1780er Jahre am Beispiel der Preisfrage über den "Volksbetrug", durch die Friedrich II. seine eigene Skepsis hinsichtlich der rationalen Urteilskraft der breiten Bevölkerung einem kritischen Räsonnement durch die Gelehrten unterzog. Der Preis wurde geteilt zwischen einem Befürworter (Frédéric de Castillon) und einem Gegner (Rudolph Zacharias Becker) des "Volksbetrugs".
Im dritten Block konkretisiert sich die "Zensurpraxis". Hans-Edwin Friedrich stellt private, ästhetisierende Zensurpraktiken am Beispiel der Göttinger Hainbündler gegen Christoph Martin Wieland vor. Dessen Werke wurden in inszenierten Feierstunden zerrissen und verbrannt. Hartmut Reinhardt untersucht Zensuren gegen Friedrich Schiller und Johann Gottfried Herder in den Selbstzeugnissen der Protagonisten - da die Klassiker für Humanität stehen, wird auf die Argumentation ihrer Zensoren verzichtet. Karin Angelike fokussiert auf die Zensur gegen Louis-François Mettra, dessen Tätigkeit als Zeitungsverleger sie bereits in ihrer Dissertation gewürdigt hat. Mettra gelang es, durch mehrere Ortswechsel und die Pflege guter Beziehungen zu kurkölnischen Ministerialbeamten seine vielfältigen Periodika vor einem Verbot zu schützen, obwohl politisch und moralisch anstößige Inhalte - besonders gegen Frankreich gerichtet - publiziert wurden. Elena Agazzi geht am Beispiel des "Jenaer Kreises" und der "Heidelberger Romantik" auf einen erweiterten Zensurbegriff ein, der die wechselseitige Polemik von Literaten zwischen Spätaufklärung und Frühromantik mit einschließt. Ursula Pia Jauch zertrümmert bestehende Gewissheiten über die Einheitlichkeit des Phänomens "Zensur": In ihren Augen war Zensur eher ein kommunikativer Prozess zwischen dem Autor und der Gesellschaft, wobei beide jeweils das Wollen und Handeln der anderen Seite antizipierten. Autoren und Verleger stellten dabei das Risiko der Verfolgung dem potentiellen Nutzen durch höhere Erlöse und Berühmtheit aufgrund der Zensur gegenüber.
Der vierte Block vereinigt die restlichen Beiträge und wurde daher "Intra- und Interkulturalität, historische Dimensionen" genannt. Wolfgang Wüst hebt das besondere Augenmerk der oberdeutschen Reichsstädte auf die konfessionelle Literatur hervor. Angesichts der Schwierigkeiten in paritätischen Reichsstädten, es beiden Konfessionen recht zu machen, konnte schon einmal der Zensor selbst in die Kritik geraten und abgemahnt werden. Norbert Christian Wolf stellt die literarische Zensur in der Habsburgermetropole Wien vor, die von mehreren geistlichen und weltlichen Stellen parallel ausgeübt wurde. Zwar gelang die Kontrolle der eigenen Produzenten, doch musste die Regierung sich 1777 eingestehen, dass alle verbotene Literatur aus ganz Europa hier trotzdem unter der Hand zu erwerben war. Edgar Mass untersucht die klerikale Zensur der Römischen Kurie unter Papst Benedikt XIV. in Frankreich. Französisch war die lingua franca der Frühmoderne, der Kontrolle französischsprachiger Werke kam daher aus Sicht der Kurie dieselbe Bedeutung zu wie derjenigen lateinischer oder italienischer Schriften. Allerdings erfasste die französische Vorzensur weniger als die Hälfte der erschienenen Bücher zwischen 1740 und 1758. Wolfram Siemann analysiert die verschärften Zensurbedingungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Sie begannen nicht erst mit Metternich, sondern bereits unter Napoleon. Der Sammelband wird abgeschlossen durch den Beitrag von Wilhelm Haefs, der in die Zukunft blickt und Konzepte, Perspektiven und Desiderata der Zensurforschung aufzeigt. Haefs bemängelt das fortbestehende Theorie-Defizit hinsichtlich der Zensur: Was in Monographien und Aufsätzen unter dem Begriff behandelt wird, unterscheidet sich oft stark, bisherige Strukturierungsversuche haben es nicht vermocht, allgemein anerkannt zu werden. Haefs schlägt vor, zwischen Zensurträgern, -begründungen und -argumenten zu unterscheiden, Zensurpraxis und Zeitpunkt der Zensurmaßnahme zu beachten (Präventiv-, Prohibitivzensur), die Rechtsquellen und die ausführenden Organe zu benennen sowie zwischen dem rechtsförmigen und dem informellen Zensurverfahren zu differenzieren.
Die Beiträge bestätigen das Bild großer Diversität der Zensur in sozialer, geographischer und zeitlichen Hinsicht. Die zentralen Kriterien der Gotteslästerung, der Ehre von Herrschaftspersonen und der guten Sitten, die die Theoretiker formulierten, sicherten keineswegs die einheitliche Praxis, die die Reichs- und Territorialgesetzgebung suggerierte. Die Absicht herrschaftlicher Steuerung von Informationen und kognitiven Grundhaltungen ist klarer erkennbar als der Erfolg der unternommenen Kontrollmaßnahmen. Viele Anordnungen wurden missachtet, andere boten Gelegenheit zum Aushandeln, Phänomene, die auch in anderen Bereichen der frühneuzeitlichen Rechtspraxis beobachtbar sind. Zunächst ging die Zensur im Aufklärungszeitalter mit dem Zeitgeist. Eine mehrstufige Verschärfung der Kontrollen entstand aus der grundlegenden Kritik am Ancien Régime seit den 1770er Jahren, dem Beginn der Französischen Revolution, der Rheinbund-Zeit und schließlich der Metternich-Ära. Das Bild vom armen, verfolgten Autor als bemitleidenswerten Protagonisten der älteren Literaturgeschichtsschreibung löst sich auf, viele aufgeklärte Literaten kokettierten mit dem Verfolgtsein, um sich auf dem illegalen Buchmarkt oder im Ausland umso größere Verkaufschancen zu erschließen. Der sorgfältig lektorierte Band ist mustergültig mit einer Gesamtbibliographie, einem Personen- und einem Ortsregister ausgestattet.
Johannes Arndt