Barbara Pusch (Hg.): Die neue muslimische Frau. Standpunkte & Analysen (= Beiruter Texte und Studien; Bd. 85), Würzburg: Ergon 2001, 326 S., ISBN 978-3-935556-85-9, EUR 41,00
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Der vorliegende Sammelband umfasst Beiträge von Frauen aus muslimischen und auch nicht-muslimischen Ländern. Bei den Autorinnen handelt sich um Journalistinnen, Politologinnen, Juristinnen, Islamwissenschaftlerinnen und Soziologinnen. Hinzu kommen Frauenaktivistinnen aus nichtwissenschaftlichen Berufsbranchen, so dass wir neben wissenschaftlichen Analysen auch persönliche Standpunkte lesen können. Insgesamt ermöglicht der stilistisch ansprechende Band einen informativen und umfassenden Einblick von innen wie von außen in die Situation der "neuen muslimischen Frau". Wie brisant und aktuell die Thematik ist, zeigt die Tatsache, dass das Symposium "Frauen in muslimischen Gesellschaften - unter besonderer Berücksichtigung der Türkei", welches im November 1999 in Istanbul hätte stattfinden sollen, zwei Wochen vor dem Beginn aus politischen Gründen abgesagt werden musste.
Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste ("Die neue muslimische Frau in der Türkei") setzt sich aus zehn, der zweite ("Die neue muslimische Frau im internationalen Kontext") aus sechs Beiträgen zusammen. Aus diesen 16 Aufsätzen seien im Folgenden einige für den Band repräsentative Beispiele herausgegriffen.
In dem ersten Aufsatz, "Die Konstruktion der 'neuen' türkischen Frau und der internationale Frauenkongress (1935)", aus der Feder der Politologin İncı Özkan-Kerestecioğlu erhält der Leser einen gelungenen Einblick in die Organisation und den Verlauf des Frauenkongresses in Istanbul. Die Autorin verfolgt darüber hinaus die Berichterstattung über den Kongress in der türkischen und europäischen Presse. Dabei stellt sie die Atatürkschen Reformen vor und zeigt plausibel, dass die kemalistische Geschlechterpolitik ganz typisch für eine nationalistische Modernisierung ist: "Da der Aufbau eines Nationalstaates bzw. der Prozess der Nationenbildung in erster Linie die Konstruktion einer neuen gesellschaftlichen Integrationsform bedeutet, werden in diesem Prozess fast immer Gruppen, die im alten System ausgeschlossen waren, integriert. Frauen stellen in diesem Zusammenhang als Gruppe, der lange die gesellschaftliche Partizipation vorenthalten wurde, eine elementare Zielgruppe dar" (18).
Ayşe Kadıoğlu stellt in ihrem Beitrag ("Die Leugnung des Geschlechts: Die türkische Frau als Objekt in großen Gesellschaftsentwürfen") die drei zur Zeit Atatürks vorherrschenden männlichen Weltbilder dar. Sie schildert die Auffassung der Okzidentalisten, die die türkische Gesellschaft nach europäischem Vorbild umgestalten wollten und sich gegen die Unterdrückung der Frau, gegen Polygamie und für eine verbesserte Bildung der weiblichen Bevölkerung aussprachen. Einige forderten sogar, ihnen politische Rechte zuzugestehen. Die muslimischen Traditionalisten hingegen waren der Auffassung, dass diese Forderungen eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung darstellen. Die Turkisten schließlich beriefen sich auf die vorislamischen Traditionen turkischer Nomaden, in denen Frauen nie dem Manne untergeordnet gewesen seien. Kadıoǧlu kommt in ihrem Vergleich der verschiedenen Weltsichten und politischen Strömungen auch späterer Zeit zu dem Schluss: "In zwei Punkten waren sich in der Türkei die unterschiedlichen Strömungen stets einig: Erstens in der Tendenz, die Frau als Objekt im Dienst eines Kampfes zu sehen, der dem Feminismus überlegen sei; und zweitens in der Wahrnehmung der Frau innerhalb der sozialen Einheit der Familie - und nicht als Individuum mit einem 'eigenen Raum'" (33).
Ihre eigenen Erfahrungen schildert Sibel Eraslan in dem Artikel "Das politische Abenteuer islamistischer Frauen in der Türkei". Ihre politische Partizipation begann, als sie selbst an Demonstrationen von Studentinnen teilnahm, die auf ihrem Recht bestanden, in der Universität ein Kopftuch tragen zu dürfen. Ihr Weg führte sie direkt in die Frauenkommission der Refah-Partei, die übrigens als erste Partei der Türkei ein solches Organ ins Leben rief. Eraslan erläutert kenntnisreich die Organisation und Geschichte dieser Institution. Ferner skizziert sie anschaulich die Situation der in der Kommission aktiven Frauen, die einerseits ihrer traditionellen Geschlechterrolle gerecht werden wollen und andererseits ein positives Bild bei der laizistischen Elite zu hinterlassen versuchen. Die Autorin macht dem Leser begreiflich, dass auf diese Weise auch für die traditionelle Frau innerhalb ihres islamischen Weltbildes eine Art 'Befreiung' möglich wurde: "In der Politik aktiv zu werden, bedeutet, einen Schritt in die Öffentlichkeit zu machen. Für die religiöse Frau, von der bis dato erwartet wurde, dass sie zu hause sitzt, ist und war die Politik eine Legitimation auf die Straße zu gehen. Der Begriff "Legitimation" ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, denn er beinhaltet Anerkennung von traditioneller und islamischer Seite. Oder anders ausgedrückt: Für die Politik in die Öffentlichkeit zu gehen, wurde auch von den Männern, Ehemännern und der spezifischen religiösen Weltsicht begrüßt." (57)
Auch die Herausgeberin Barbara Pusch hat einen Beitrag ("Türkische Kopftuchpolitiken: Einstellungen von 'Kopftuchstudentinnen' und akademischem Personal im Vergleich") zu dem Sammelband beigesteuert. Der Artikel ist insofern besonders interessant, da normalerweise im Westen gar nicht bekannt ist, dass es nicht nur eine, sondern verschiedene Kopftuchpolitiken gibt. Puschs Ausführungen basieren auf einer Studie, die sie im Jahre 1999 an der Universität Istanbul durchführte. Diese zeigt auf, wie die Verbannung des Kopftuches von der Istanbuler Universität vonstatten ging und auf welch unterschiedliche Arten die davon betroffenen Frauen darauf reagierten. Geschickt bettet die Autorin die Ergebnisse ihrer Studie in eine aufschlussreiche Darstellung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So werden sowohl der Hintergrund der Kopftuchpolitiken, als auch die Lage der in das Kreuzfeuer der Meinungen geratenen Musliminnen deutlich.
Der zweite Hauptteil des Bandes beinhaltet Artikel, die die türkische Perspektive erweitern, indem sie die Geschlechtersituation in Iran und in Malaysia sowie in Dänemark und Deutschland zum Gegenstand haben. Die Kultursoziologin Connie Caroe Christiansen möchte beispielsweise in ihrem Aufsatz ("Islamischer Frauenaktivismus in Dänemark aus transnationaler Perspektive") spezifische Kompetenzen, die Frauen durch religiöse Aktivitäten entwickeln, und die sozialen Ansprüche, die sich daraus ergeben, darstellen. Sie stützt sich dazu auf Beispiele von muslimischen Frauen in Dänemark und Marokko. Der Vergleich bietet sich an, da der größte Teil der dänischen Migrantinnen aus dem westlichen Maghreb stammt. Die Studie fußt neben Interviews und Feldstudien auch auf zusammengetragenen Daten über islamisch motivierte Handlungen und Unternehmungen in den ausgewählten Regionen. Christiansen kommt zu dem Ergebnis, dass die Aktivitäten islamistischer Frauen in beiden Ländern große Ähnlichkeit aufweisen. Außerdem stellt sie fest, dass es offensichtlich einen Paradigmenwechsel in den Migrantenfamilien hinsichtlich der Religion gegeben hat. So ist in den jüngeren Generationen eine verstärkte Abwendung von der volksislamischen Sichtweise und eine verstärkte Hinwendung zu hochislamischen Ideen zu erkennen.
Sieht man von einigen weniger gelungenen Artikeln ab, stellt der Sammelband eine sehr gute, umfassende und tiefgehende Darstellung der Situation der muslimischen Frau der Gegenwart dar. Dies gilt vor allem natürlich für die Lage der Frauen in der Türkei. Der erste Teil, der ja der den Kern des Bandes ausmacht, bietet einen ausgezeichneten Einstieg in das Thema. In den einzelnen Artikeln werden viele Teilaspekte der Problematik angesprochen, zumal die Autorinnen sehr unterschiedliche Weltsichten und politische Hintergründe haben. Im zweiten Teil des Sammelbandes wäre ein breiter gefächerter Themenkatalog wünschenswert gewesen. Anstatt dreier Artikel über Musliminnen in Iran wäre es interessanter gewesen zu erfahren, ob es zum Beispiel auch in Saudi Arabien eine "neue muslimische Frau" gibt oder wie sich die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten darstellt. Ansprechend ist die Lektüre insgesamt auch dadurch, dass sich wissenschaftliche Studien und Analysen sowie persönliche Meinungs- oder Erfahrungsberichte abwechseln. Der Sammelband bietet auf diese Weise keine 'trockene' Lektüre, ist aber auch keineswegs unwissenschaftlich.
Sabine Kleefisch