Ulrich Linse: Ulmer Arbeiterleben. Vom Kaiserreich zur frühen Bundesrepublik, Ulm: Klemm & Oelschläger 2006, 136 S., ISBN 978-3-932577-64-2, EUR 16,80
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Die Geschichte der eigenen Familie ist für professionelle Historiker häufig ein Forschungsbereich, den sie meiden. Allzu nahe liegt hier die Gefahr, nicht objektiv an den Gegenstand heranzugehen oder herangehen zu können, und es droht wohl auch der Vorwurf aus Fachkreisen, eben nicht objektiv gewesen zu sein. Ulrich Linse hat es nichtsdestoweniger gewagt, scheinbar seine Forschungsgebiete wie alternative soziale Bewegungen des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts, und dabei vor allem Jugendbewegungen und Anarchismus, zu verlassen und sich der eigenen Familiengeschichte zuzuwenden.
Die Ursache dafür waren die vom Vater hinterlassenen Photoalben, deren Bedeutung weit über das Festhalten von Erinnerungsbildern hinaus ging - was der Sohn erkannte. Der Fabrikarbeiter Frieder Linse, 1906 in Ulm geboren, hatte Anfang der 1920er Jahre das Photographieren als sein Hobby entdeckt. Zumeist ging es ihm dabei aber nicht ums "Knipsen", sondern um Bildkompositionen mit geradezu künstlerischem Anspruch, in denen seine Persönlichkeit zum Ausdruck kam. Und so erzählen seine Photos eben nicht nur von Frieder Linse und seiner Familie, sondern auch von der Ulmer Arbeiterjugend und ihrem Freizeitverhalten, von Körperkult, wilden Cliquen und Naturbegeisterung. Und damit ist der Autor Ulrich Linse eben doch bei seinen Forschungsgebieten, die er diesmal aber mit einem besonderen Quellenmaterial bearbeitet. Entstanden ist so tatsächlich das, was der Titel ankündigt: eine Geschichte des Ulmer Arbeiterlebens zwischen den 1870er Jahren und den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die Photos sind darin wichtiger Bestandteil dieser Arbeitergeschichte, eingebettet in einen Text, der sie kommentiert und erläutert - und der sie in der Ulmer und in der deutschen Geschichte ihren Platz finden lässt. Der Autor hat dazu nicht nur gesellschafts-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Sekundärliteratur herangezogen, sondern auch autobiographische und zeitgeschichtliche Dokumente aus dem Nachlass Frieder Linses ausgewertet. In verschiedenen Archiven, vor allem im Stadtarchiv Ulm und im Archiv der Wieland-Messingwerke, ist er fündig geworden; die Ergebnisse fließen in den Text ein oder sind zu Statistiken verkürzt.
Als sich in den 1880/90er Jahren das württembergische Ulm von einer Garnisons-, Handels- und Handwerkerstadt zu einer Industriestadt wandelt, verstärkt sich der Zuzug von Arbeitskräften aus dem ländlichen Umland. Vier Brüder aus der Linsefamilie kommen so nach Ulm und verdingen sich zunächst als Taglöhner, einer davon, Christian, wird Industriearbeiter, ist seit 1893 als Facharbeiter bei den Wieland-Messingwerken nachweisbar und mietet für seine sich vergrößernde Familie schließlich ein Arbeiterhäuschen in der neu gebauten Werkssiedlung "Untere Bleiche", die man in Ulm als "Arbeiterkolonie" verächtlich "Neu-Kamerun" nannte.
Die Arbeiterkolonie prägt Denken und Leben ihrer Bewohner. Sie sind allein schon von ihrer Herkunft her gemäßigt, sehen aber mehrheitlich ihre Interessenvertretung bei der Sozialdemokratie: Deren Wahlerfolge korrespondieren nicht mit dem Ansteigen ihrer Mitgliederzahlen; der Facharbeiter Christian Linse befindet sich als Mitglied des Arbeiterausschusses seiner Firma offensichtlich im Spannungsfeld zwischen Interessenvertretung und Werksverbundenheit.
Sein Sohn Frieder wächst mit anderen Arbeiterkindern in der Unteren Bleiche auf, vor allem von den älteren Geschwistern erzogen, mit den Nachbarskindern in Gärten und Gartenhäuschen oder auf der "Gänswiese" (33) spielend. Auch die Lehrzeit (als Eisendreher bei Wieland) führt nicht zum Eintritt in einen Verein - den hätte der Lehrherr genehmigen müssen. Während der ältere Bruder immerhin in den 1920er Jahren zur Jugendfußballmannschaft des TV Ulm gehört, bleibt Frieder Sportvereinen ebenso fern wie der Sozialistischen Arbeiterjugend und der Gewerkschaftsjugend, zunächst auch den Naturfreunden.
Wohl aber gehört er zur wilden Clique "Bleichia", die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in "Neu-Kamerun" entsteht, durchaus vergleichbar mit ähnlichen Gruppenbildungen in Berlin oder im Rhein-Ruhr-Gebiet. Sie weist typische Formen einer Arbeiterjugendkultur auf: die Ablehnung straffer Organisation, Freizeitgestaltung durch Sport und Wandern mit dem Ziel ohne die Zwänge von Schule und Lehre frei zu leben. Es gibt keine Aufnahmerituale, keinen Wimpel, keine Führer. Man fährt bei der "Bleichia" Ski in der Ulmer Umgebung, schwimmt, unternimmt Wander-, später Fahrrad- und Eisenbahnausflüge. Freundschaften entstehen unter den jungen Arbeitern, auch junge Frauen sind mit dabei. Das Unorganisierte verhindert aber nicht die "zünftige" Erscheinung. Die jungen Männer legen Wert auf "Tiroler Seppl-Kluft" (51) mit Lederhose und verwegener Kopfbedeckung. So fahren sie auf die Alb, so gehen sie auf Bergtour im Allgäu.
Erst in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik ist bei Frieder Linse politisches Engagement belegt: Mitgliedschaft in der Metallarbeitergewerkschaft und bei den Naturfreunden, deren Ziele ohnehin zu seinem Weltbild passen. Lebensreformerisches Denken verbindet sich mit antifaschistischer Haltung und der Nähe zur Weimarer Friedensbewegung. Seiner überparteilich sozialistischen Grundeinstellung bleibt er auch während der NS-Zeit treu, Widerstand ist aber seine Sache nicht, im Gegensatz zu seinem Bruder. Frieder verhält sich dem Regime gegenüber loyal. Als DAF-Mitglied nutzt er billige Urlaubsreisemöglichkeiten, lernt dabei seine spätere Frau kennen. Mit der Heirat 1936 kommt ein Umzug aus der Arbeiterkolonie in eine Mansardenwohnung einer Villa in Neu-Ulm - in die Wohnnähe anderer Familienmitglieder. Damit einher geht ein Leben in anderem Milieu: die Photos dokumentieren das Ende der Cliquenunternehmungen, den Rückzug auf die Familie, auch das weitgehende Ausblenden politisch-staatlicher Öffentlichkeit.
Nach dem Krieg bleibt er sich selber treu, ist wieder Mitglied bei der Metallgewerkschaft und bei den Naturfreunden, an deren Maiwanderung er sogar in späteren Jahren regelmäßig teilnimmt. Wenige Monate ist er 1946/47 KPD-Mitglied, seine Hoffnungen auf die Entstehung einer einzigen gemeinsamen Partei der Arbeiterbewegung setzend. Im Grunde aber lebt er weiterhin als "ein unorganisierter Einzelgänger" (108). Die Wieland-Werke bieten ihm bereits am Anfang der Besatzungszeit wieder einen sicheren Arbeitsplatz, den er bis zum Rentenalter behält. Er fotografiert weiterhin bis zu seinem Tod 1988. Mit dem "Dritten Reich" und der Trümmerzeit hat allerdings eine Desillusionierung eingesetzt, der alte Anspruch ist verloren gegangen: "nur noch nichtssagende Allerwelts-Bilder" (115).
Auch wenn ein professioneller Historiker ein solches Unterfangen wagt: Es ist - zumal mit dem hier vorliegenden Bildmaterial und den anderen Familienquellen - eine Gratwanderung zwischen subjektiver Ergriffenheit und objektiv-methodischem Vorgehen. Ulrich Linse hat diese Gratwanderung überzeugend bewältigt, weil es ihm gelungen ist, die Familiengeschichte einzubauen in die Ulmer Arbeitergeschichte und darüber hinaus in die deutsche des 19. und 20. Jahrhunderts.
An zwei Besonderheiten lassen sich die besondere Wirkung und Leistung des Buches ablesen. Zum einen sind es die solide erarbeiteten und klar graphisch gestalteten Statistiken, die immer wieder in den einzelnen Kapiteln Aspekte der Bevölkerungs-, Partei- und Verbandsentwicklung verdeutlichen. Und zum anderen sind es die Photos, vor allem die aus dem Nachlass Frieder Linses, die den Text begleiten und ergänzen. An ihnen wird klar, dass Frieder Linse ein photographierender Arbeiter, aber eben kein Arbeiterphotograph war, mit der Absicht, "soziale Bilder" (116) zu produzieren. Der Autor hat seine Quellen, die Photos des Vaters, sehr genau analysiert und in ihren zeitgenössischen sozialen Kontext eingebunden. Dies belegen vor allem die beiden Schlusskapitel "Ein Ulmer Arbeiterleben in Fotos - Skizzen zur Geschichte der Arbeiterfotografie" und "Frieder Linses technische Ausrüstung".
Besonders erhellendes und beeindruckendes Dokument des photographierenden Arbeiters ist der Rückenakt des "Lichtgebets im Kleinen Lautertal" (125), in den 1930er Jahren wohl mit Selbstauslöser aufgenommen: Hier hat Hugo Höppners Ikone der Lebensreformbewegung den nicht organisierten Arbeiter offensichtlich zur Nachahmung inspiriert, allerdings nicht als Versuch einer Kopie, sondern mit individueller Aussage: Naturverbundenheit des Individuums in Freiheit.
Reinhard Baumann