Christine Decker: Wismar 1665. Eine Stadtgesellschaft im Spiegel des Türkensteuerregisters, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 152 S., ISBN 978-3-8258-9192-3, EUR 9,90
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Was eine Magisterarbeit trotz schwieriger Quellen- und Literaturlage zu leisten vermag, beweist das vorliegende Buch. Christine Decker hat aus den reichen, aber weitgehend unerschlossenen Beständen des Archivs der Hansestadt Wismar ein Türkensteuerregister ausgewählt und daraus eine beeindruckende Studie zur Sozialgeschichte der Stadt erarbeitet. Bemerkens- und begrüßenswert ist diese Untersuchung vor allem vor dem Hintergrund, dass die Wismarer Stadtgeschichte immer noch von den Forschungen ihres Archivars Friedrich Techen aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zehrt, der die Bestände seines Archivs zwar sehr gut kannte, aber natürlich mit der Fragestellung und Methodik seiner Zeit an sie heranging. Da die Mehrheit der seither entstandenen Forschungen zu Wismars Stadtgeschichte populärwissenschaftlichen Charakter trägt und die archivische Erschließung zentraler Bestände - auch zur wichtigen Schwedenzeit - ungenügend ist, sind Qualifizierungsarbeiten, die mit Hilfe einer Quelle überschaubaren Umfangs zu modernen Problemstellungen arbeiten, sehr willkommen.
Die Arbeit ist klassisch gegliedert. Nach einer Einleitung, in der Decker die Fragestellung erläutert, das Thema eingrenzt und Forschungsstand und Quellenlage vorstellt, widmet sie sich in einem ersten Schwerpunkt Wismar in der Schwedenzeit, stellt in einem zweiten Punkt ihre zentrale Quelle, das Türkensteuerregister von 1665, näher vor und analysiert schließlich anhand dieser Quelle die Sozialstruktur der Stadt. Schlussbetrachtung und Ausblick runden die inhaltliche Betrachtung ab, Verzeichnisse zu Quellen und Literatur, Abkürzungen, Tabellen und Abbildungen sowie Anhänge bilden den wissenschaftlichen Apparat der Arbeit.
Im Wismarer Stadtarchiv existieren mehrere Bevölkerungslisten, die für die Sozialgeschichte auswertbare Angaben enthalten, das Türkensteuerregister von 1665 ist von den bisher bekannten Quellen die zeitlich früheste. Geordnet nach den drei Kirchspielen St. Marien, St. Nikolai und St. Georgen werden tabellarisch Straßenabschnitte, Namen und Vornamen der Hausbewohner über 14 Jahre, Geschlecht, Beruf (des Haushaltsvorstands) bzw. Personenstand (wenn Witwe), Steueranschlag und geleistete Bezahlung angegeben. Vermerkt sind auch die Anzahl des Dienstpersonals, der Hilfskräfte und sonstigen Einwohner der Häuser, Buden und Keller sowie das zum Grundstück gehörige Vieh.
Decker ordnet dieses Türkensteuerregister zunächst in den historischen Kontext seiner Entstehung ein, skizziert, wie die Herrschaft Wismar an Schweden gelangte, und nennt wichtige historische Eckdaten zur Schwedenzeit Wismars. Die wirtschaftliche Situation um 1665 kennzeichnet sie als Phase, in der sich die Stadt vom Dreißigjährigen Krieg erholt hatte und einen Aufschwung in allen Bereichen erlebte. Decker benennt die drei städtischen Stände, ordnet ihnen die einzelnen Berufe zu und gibt prägnante Einblicke in städtische Verwaltung und berufliche Organisation.
Im folgenden Kapitel stellt sie ihre Ausgangsquelle vor. Sie nennt den Zweck der Veranlagung und ordnet ihn reichsgeschichtlich ein, nutzt jedoch weder die moderne Forschungsliteratur, die auch Aussagen zu ihrem Untersuchungsgebiet trifft, noch erwähnt sie die Streitigkeiten, die es darum gab, ob und wie die Herrschaft Wismar überhaupt zu derartigen Reichssteuern zu veranlagen war. Als diese festgesetzt worden waren, hatten die 1665 schwedischen Gebiete noch zum Herzogtum Mecklenburg gehört und waren entsprechend in dessen Steueranschlag aufgenommen worden. Mit dem Übergang an Schweden und der Bildung der Herrschaft Wismar musste der entsprechende Anteil also neu zugeordnet werden.
Da dieses Problem nicht das primäre Ziel der Darstellung in diesem Band ist, analysiert die Verfasserin konsequent die königliche Instruktion für die Steuereinnehmer und stellt dar, wie die Steuererhebung in Wismar organisiert wurde: Beauftragte des Rates und der Bürgerschaft visitierten die Bürger der Stadt und teilten sie in vier Steuerklassen ein. Dabei wurden die im Haushalt lebenden Personen in unterschiedlicher Höhe veranlagt, den Steuerkommissaren wurde die Freiheit gelassen, über die Kriterien Beruf und Stand hinaus die Veranlagung nach Kategorien wie Kleidung oder "Nahrung" vorzunehmen. Die Steuerpflichtigen wurden auf diese Weise zwischen 1 Rtlr 24 Schilling (s) (1. Klasse) und 16s ("geringste Leute der dritten Klasse") für die Haushaltsvorstände, zwischen 1 Rtlr und 8s für Frauen und 24s und 4s für Kinder über 14 Jahre veranlagt. Da in der Instruktion keine Anweisung zu den von der Steuerzahlung befreiten Personen gemacht wird, muss Decker auf andere Quellen zurückgreifen, um diese Personengruppe zu erfassen. Decker erläutert die von ihr entwickelte Datenbank zur Auswertung der Quelle, nennt andere Quellen, mit denen sie die Angaben des Türkensteuerregisters ergänzt und verifiziert hat und gibt so Einblick in die Probleme der Quellenauswertung.
Im umfangreichsten Gliederungspunkt ihrer Arbeit legt die Verfasserin die Analyse der Sozialstruktur Wismars vor. Dabei nutzt sie die "Hamburger Berufssystematik", eine Gliederung von Berufen und Berufsgruppen, die in mehreren Arbeiten zur Sozialgeschichte norddeutscher Städte ihre Anwendung gefunden hat, und listet unter den verschiedenen Obergruppen die Vielfalt der Berufe in Wismar auf. Diese ordnet sie jeweils den verschiedenen Kirchspielen zu, so dass neben dem städtischen Sozialprofil auch eine differenzierte Sicht auf die einzelnen Kirchspiele möglich wird. Zahlreiche Detailinformationen über Glockengießer, Buchbinder und -drucker, Seifensieder, Uhrmacher, Schulmeister etc. pp. künden vom enormen Fleiß und Interesse Deckers, begleitende Quellen und Literatur auszuwerten. Die Studie entfaltet in diesem Abschnitt das gesamte Panorama des Wismarer Erwerbslebens dieser Zeit.
Decker klassifiziert die Berufe in vier Sektoren: Primärsektor mit Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Abbau von Rohstoffen, sekundärer Sektor mit Waren produzierendem Gewerbe, tertiärer Sektor mit allen Dienstleistungen und quartärer Sektor mit allen Berufen, die den anderen Sektoren nicht zugeordnet werden können (Tagelöhner, Sozialfälle). Nach ihrer Analyse sind sekundärer und tertiärer Sektor mit 44% gleich stark, gefolgt vom quartären (7%) und dem primären Sektor (5%). Als wichtige Wirtschaftszweige für Wismar erkennt sie die Bereiche "Textil", "Bekleidung" und "Nahrung und Genussmittel" im sekundären, "Handel" sowie "Transport- und Verkehrswesen" im tertiären Sektor. Diese Ergebnisse differenziert sie für die einzelnen Kirchspiele und untersucht in einem gesonderten, verdienstvollen Unterkapitel die Frauenerwerbsarbeit.
In weiteren Schritten wertet Decker ihre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Haushaltsvorstände (4.2.), der Stadtarmut (4.3.), der vorstädtischen Bevölkerung (4.4.) und der Viehsteuer (4.5.) aus und zieht ein Fazit. In diesem betreibt sie Quellenkritik und merkt u.a. an, dass die Quelle ungeeignet ist, um gesicherte Aussagen zu den Vermögensverhältnissen, zur Wohnsituation, zum Bildungsstand oder zur gesellschaftlichen Partizipation zu treffen. Sie fasst ihre Ergebnisse noch einmal zusammen und benennt Forschungsdesiderata: vergleichende Studien zu anderen Städten des Ostseeraumes oder zu Wismar in späteren Jahren, die langfristige Entwicklungen in der Sozialstruktur der Stadt zeigen würden.
Die Arbeit wird abgerundet durch einen umfangreichen Anhang mit den Instruktionen für die Steuereintreiber, dem Straßenregister der Quelle, der Einteilung nach Ständen 1648, Liegenschaften in der Wismarer Stadtfeldmark sowie Tabellen zur Anzahl der berufstätigen Haushaltsvorstände in den 3 Kirchspielen nach Berufsgruppen, der Mägde und Jungfern sowie der männlichen Gehilfen in den Haushalten nach Berufsgruppen und Kirchspielen, die gute Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten liefern.
Kritik an der Arbeit richtet sich gegen teilweise überzogene Wertungen und Missinterpretationen, die allerdings überwiegend aus dem schlechten Forschungsstand herrühren und der Autorin daher nur bedingt anzulasten sind. Ob etwa das Tribunal als "Ausgangspunkt für Wissenschaft, Bildung und Kultur im südwestlichen Ostseeraum" (35) angesehen werden kann, darf trotz der beeindruckenden Arbeitsbibliothek hinterfragt werden. Auch die Forderung, Handwerksmeister hätten "freier und deutscher Geburt" zu sein, wurde im genannten Zeitraum mehrfach übertreten, wie die einschlägigen Prozessakten beweisen (39). Sinnvoll wäre vielleicht auch gewesen, die einzelnen Berufszweige nach ihrer Wichtigkeit für Wismar vorzustellen und sie erst dann in die "Hamburger Systematik" einzuordnen.
Diese Kritik schmälert keineswegs den Wert der vorliegenden Studie, die im besten Sinne des Wortes Pionierarbeit für die Wismarer Stadtgeschichtsschreibung leistet. Nach Auswertung weiterer Quellen aus anderen Jahrzehnten könnte die Entwicklung der Sozialstruktur untersucht werden. Brüche in der Stadtgeschichte wie das Ende der schwedischen Großmachtzeit (1720) oder die Verpfändung an Mecklenburg (1803) könnten dabei daraufhin analysiert werden, inwieweit sie sich auf die Sozialstruktur auswirkten. Dafür hat diese inspirierende Magisterarbeit solide Grundlagen geliefert.
Nils Jörn