Thomas Schwietring: Kontinuität und Geschichtlichkeit. Über die Voraussetzungen und Grenzen von Geschichte, Konstanz: UVK 2005, 596 S., ISBN 978-3-89669-715-8, EUR 59,00
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Begriffliche und konzeptuelle Voraussetzungen kultur- und geschichtswissenschaftlicher Arbeit einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, stellt ein verdienstvolles Bemühen dar, wenn auch am Ende der tatsächliche Ertrag für die Reflexion der eigenen Forschungspraxis gering sein mag. Am ehesten erfolgversprechend erscheint es, die Ergebnisse der doxographischen und systematischen Untersuchung in die Analyse aussagekräftiger Narrative einfließen zu lassen. [1] Thomas Schwietring wählt in seiner an der Universität Kassel 2003 angenommenen Dissertation einen anderen Weg. Als Vorstudie (!) zu einer Arbeit über die Transformationsprozesse in Ostmitteleuropa nach 1990 bildet das Buch so etwas wie die Selbstvergewisserung eines Sozialwissenschaftlers, dem die rein empirischen, strukturellen und handlungstheoretischen Ansätze seiner Disziplin nicht ausreichen und der die Triftigkeit historischer Erklärungsansätze entdeckt. Alle von ihm sozialwissenschaftlich zu untersuchenden Sachverhalte sind Produkte eines historischen Wandels, wie auch die Untersuchung selbst, ihre Methoden und Wissensformen "diesem Wandel unterworfen sind, also keine zeitlose Gültigkeit beanspruchen können" (518). Als genuin soziologisch wird die Frage nach "den Möglichkeiten einer innerweltlichen Erklärung von Wirklichkeit rein aus den geschichtlich gewordenen Bestandteilen des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur heraus" bezeichnet (568), denn "alle Bestandteile der menschlichen Wirklichkeit, des menschlichen Denkens und Handelns, der alltäglichen Lebensweise und der gesellschaftlichen Ordnung, des Wissens und Hoffens sind aus dieser Geschichtlichkeit heraus zu begreifen" (ebd.). Spitz könnte man sagen: Keine Sozialwissenschaft ist verloren, der es möglich ist, im 21. Jahrhundert das seit dem frühen 19. Jahrhundert gängige und jedem Historiker vertraute Grundaxiom des Historismus für sich zu entdecken, den "Rückzug der Soziologie aus der Geschichte" (48) als schweren Verlust zu kennzeichnen und für sich ein "Programm radikaler Historizität" zu entwickeln (573). Dem Autor auf seinem Weg zu folgen, durch zahlreiche Abschweifungen, Zwischenrückblicke, auf mal sumpfigen, mal staubigen Pfaden, ist aber ziemlich mühsam, wobei eingeräumt sei, dass sich unterwegs manche schöne Ausblicke und handliche Steine zum Aufheben finden lassen.
Schwietring möchte den Begriff der Kontinuität systematisch untersuchen, um ihn als einen bei richtiger Anwendung fruchtbaren Grundbegriff sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung hervortreten zu lassen. Dabei geht es ihm nicht um die häufig bemühte Polarität oder Komplementarität von Kontinuität und Wandel. Kontinuität hänge vielmehr unmittelbar mit der geschichtlichen Gewordenheit aller Phänomene und jeder Erkenntnis zusammen, weswegen sich die Studie auch ausführlich den Begriffen Zeit, Geschichte und Geschichtlichkeit widmet. Selbst eine konstruktivistische Auffassung, der Schwietring erkennbar zuneigt, kommt ohne die Annahme von Kontinuität nicht aus. Denn "die soziale Wirklichkeit insgesamt besteht aus einer Vielfalt von Handlungsmustern, Erwartungen, symbolischen Ordnungen und Institutionen, die erst durch ihre Beständigkeit zu einer erfahrbaren Realität werden" (51). Jede Sozialisation und Individuation vollzieht sich in einer von Menschen geschaffenen Umwelt und durch eine historisch gewachsene, die künftigen Möglichkeiten maßgeblich bestimmende und so Zusammenhang herstellende Kontinuität. Nicht Diskontinuität ist ihr Gegenbegriff, sondern die Leugnung jedes historischen Zusammenhanges. Ohne eine partielle und vorübergehende Stabilisierung gäbe es weder individuelles Denken noch soziales Handeln, weder wissenschaftliche Begriffsbildung noch irgendeine Form von Erkenntnis.
Die Einleitung (21-64) birgt bereits die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit, gewonnen freilich im Wesentlichen durch Deduktion. Dann allerdings holt der Autor weit aus und unterbreitet eine Begriffs- und Ideengeschichte des Kontinuitätsproblems, durchzogen immer wieder von systematischen Reflexionen und Selbstvergewisserungen. Damit bringt sich der Autor um die Chance, erstmals eine gründliche historisch-doxographische Aufbereitung des Kontinuitätsbegriffs vorzulegen. Der Durchmarsch von den Vorsokratikern und Aristoteles über Vico, Leibniz und Droysen bis Heidegger und Habermas überfordert eine Anfängerarbeit wahrscheinlich auch, und so finden sich in diesen Teilen neben guten Beobachtungen und Fundstellen immer wieder auch Missverständnisse und arge Verkürzungen. Schwietring hebt mit Recht die Bedeutung Kants hervor, der in der Logik seiner Erkenntnistheorie Kontinuität als etwas definierte, was weder eine immanente oder gar substantielle Eigenschaft eines Geschehens noch eine willkürliche Einbildung eines Beobachters sei, sondern ganz fundamental die Voraussetzung der Wahrnehmung von Geschehen überhaupt, die "Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis überhaupt" (129). Obwohl das gar nicht Kants Thema war, konnte Kontinuität damit als Problem Eingang in die Methodologie der Geschichtswissenschaft finden.
Allerdings begibt sich der Autor auf einen (oft beschrittenen) Abweg, wenn er auch die für das historische Fragen und die 'Geschichte' fundamentale Einsicht in die 'Gemachtheit' und Wandelbarkeit der Welt an die Kant'sche konstruktivistische Erkenntnistheorie koppelt und jene Einsicht damit erst um 1800 beginnen lässt. Eine genauere Kenntnis hätte ihn vor dem Irrtum bewahrt, dass die griechischen Geschichtsschreiber keine Deutung der Gegenwart aus den Kenntnissen über die Vergangenheit erreicht oder auch nur angestrebt hätten und ihre Vorstellung daher statisch gewesen sei. Herodots Werk geht bekanntlich von der Erfahrung des Wandels aus, und sowohl er als auch Thukydides legen mit ihren Vorstellungen vom Machtprozess bzw. von der zunehmenden Konfliktdynamik zwischen Großmächten einen auf anspruchsvolle Modelle gerichteten, aber im Detail nicht determinierten Wandel zugrunde. Herodot war die Zeitlichkeit und Gewordenheit auch von Kulturen natürlich vollständig bewusst, wie nicht nur seine Hinweise auf das höhere Alter der ägyptischen Religion und ihren Einfluss auf die griechische zeigen. [2] Insgesamt erscheint die ältere Zeit, v.a. die griechische Antike, in der Studie leider weitgehend verzeichnet, und Schwietring kritisiert an mancher Ideengeschichte, was er selbst begeht: dass sie einen ausgeformten Begriff - hier der Geschichte - nimmt und ihn dann in früheren Epochen sucht, in denen dann natürlich "Fehlstellen" zu konstatieren sind (265f.). Auch die Ablehnung jeder materialen Aussage über historische Kontinuität wird vielleicht milder ausfallen, wenn der Autor einmal an einem konkreten Gegenstand länger gearbeitet hat.
Obwohl Schwietring das Pathos der Selbstvergewisserung durch geschichtliches Denken anstelle von Mythos, reiner Vernunft oder Theologie im 19. Jahrhundert treffend hervorhebt, fehlt seinem dicken Buch einfach ein substanzielles Kapitel über den Historismus. Doch die Leistung historistischer Geschichtstheorie - und noch mehr ihrer Praxis, die der Autor aber vollständig ausklammert -, nämlich Kontinuität als "innerweltliche Gewordenheit" (485) und nicht etwa in einem "lückenlosen, quasi automatischen und natürlichen Zusammenhang der (kausalen) Abfolge von Ereignissen, sondern in der unendlichen Dichte und Verflechtung von Folgen und Nebenfolgen, Verquickungen mit anderen Ursachen und wechselseitigen Verstärkungen oder Einschränkungen" (258) zu erkennen, ist zutreffend charakterisiert. Generell sind die Ausführungen über Geschichte und Geschichtlichkeit (269ff.) auch für Historiker lesenswert, wenn auch nichts Neues geboten wird. Das gilt für die Abschnitte über Johann Gustav Droysen (277ff.) und Giambattista Vico (373ff.) wie für die Referate der sprachtheoretischen und rhetorischen Modelle der Geschichte von Arthur C. Danto und Hayden White. Demgegenüber führt die ausladende Auseinandersetzung mit Hans Michael Baumgartner nicht so viel weiter, wie der Verfasser das wohl gern wollte. Mit Gewinn liest man dagegen am Ende des Buches die resümierenden und systematisierenden Überlegungen, wie Kontinuität und Geschichtlichkeit als Faktoren von Bedingtheit und als Bedingungen sinnvoll auf andere Grundbegriffe sozial- wie kulturwissenschaftlicher Forschung (Struktur, Handlung, Evolution u.a.) zu beziehen sind.
Kaum jemand wird das Buch von Anfang bis Ende durchlesen, um Schwietrings Selbstvergewisserungen nachzuvollziehen, zumal die Darstellung oft ausufert, zu Verstiegenheiten führt [3] und der sachliche Ertrag im Verhältnis zum Aufwand eher gering ausfällt. Selbst der Autor scheint am Ende keine Lust mehr gehabt zu haben, die Druckvorlage noch einmal anzusehen, anderenfalls wären ihm die zahlreichen falschen Schreibungen, versetzten, verdoppelten oder fehlenden Worte, ungrammatischen Sätze und technisch verursachten Mängel wohl aufgefallen.
Anmerkungen:
[1] So zuletzt Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Frankfurt/M. 2005; vgl. meine Rezension, in: sehepunkte 5 (2005) Nr. 11 (http://www.sehepunkte.de/2005/11/8402.html )
[2] Dies wird auf Seite 196 halb eingeräumt, bleibt aber ohne Konsequenzen auf die Doktrin, dass Geschichte ein erst neuzeitliches, maßgeblich von der Erfahrung radikaler Diskontinuität durch 1789 generiertes Konzept darstelle. Doch auch schon früher sind Welten plötzlich eingestürzt und hat das gehaltvolle Reflexionen ausgelöst (auch das übrigens eingeräumt: 214).
[3] Vgl. etwa Seite 373: "Vielleicht ließe sich sagen, daß zwar Vernunft nicht für den Fortschritt in der Geschichte sorgt, daß sie aber einen Rückschritt in dem Sinne verhindert, daß sie durch die Reflexion der Vergangenheit eine exakte Wiederholung ausschließt." Vgl. auch 445.
Uwe Walter