Anton Powell (ed.): Hindsight in Greek and Roman History, Swansea: The Classical Press of Wales 2013, XV + 228 S., ISBN 978-1-905125-58-6, GBP 50,00
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Als vor über dreißig Jahren Alexander Demandts "Ungeschehene Geschichte" herauskam, konnte kontrafaktische Geschichtsbetrachtung noch als Spielerei oder Experiment betrachtet werden, als wissenschaftlich kaum satisfaktionsfähiges Ernstnehmen literarischer Fingerübungen im Sinn von "Was wäre, wenn Alexander der Große 323 nicht gestorben wäre?". Inzwischen hat sich das geändert, sind Kontingenz und Zufall Gegenstände gewichtiger Studien nicht nur philosophischer, sondern auch epistemologischer und historiographiepraktischer Art geworden. [1] Das mag auch daran liegen, dass die lange Zeit in der Geschichtswissenschaft zumindest die Theoriedebatten dominierende Sozial- und Strukturgeschichte mit ihrem Interesse allein an mehrfach determinierten und von langen Trends bestimmten Basisprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft, die durch anders verlaufende einzelne Ereignisse oder Entscheidungen von Individuen nicht hätten gestoppt oder in eine ganz andere Richtung gelenkt werden können, inzwischen ihre Hegemonie verloren hat. Vor allem komplexe Ereigniszusammenhänge, die in dieser Hinsicht gleichsam zwischen der Industriellen Revolution einerseits, der Schlacht von Actium andererseits liegen, gewinnen in der so generierten neuen Unübersichtlichkeit wieder an Interesse: vom Kaliber des Hannibalkriegs etwa oder des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs.
Eine Variante dieses Sehepunktes auf die Geschichte ist die Reflexion über das bereits von Friedrich Schlegel apostrophierte, an sich banale, aber folgenreiche Problem, dass der Zurückblickende Informationen über den Ausgang einer historischen Ereignisfolge besitzt, die dem jeweiligen Akteur naturgemäß fehlten, und er durch die Vorsprung zu einer "hindsight"-Perspektive verleitet wird. Die daraus resultierende vorschnelle Eliminierung von geschichtlichen Möglichkeiten birgt sowohl ein moralisches Problem (i.S. von Besserwisserei und Ungerechtigkeit gegenüber den Handelnden) als auch die Gefahr reduktionistischer, also intellektuell insuffizienter Erklärungen.
Der vorliegende Tagungsband geht das Phänomen anhand von Fallstudien zu bekannten Konstellationen der antiken Geschichte zupackend an. Hindsight, so die vom Herausgeber bündig entwickelte These (IX), verdunkelt das Verstehen, indem konterkarierte Erwartungen ("unfulfilled forecasts"), die zu hegen in der jeweiligen Gemengelage durchaus nicht abwegig war, unterschätzt oder gänzlich ignoriert werden. Diese Einsicht hat nichts mit dem Entwerfen alternativer Szenarien zu tun; es geht vielmehr darum, die Brüchigkeit von Generalisierungen und Kausalketten zu erweisen und bei den Handelnden (und ihren Interpreten, den antiken Geschichtsschreibern) die Unvorhersagbarkeit von Ereignissen und, daraus folgend, die Unsicherheit der historisch führenden Figuren bei Entscheidungen in Rechnung zu stellen.
Antike Historiographen hatten dafür durchaus Sinn; sie entwickelten Motive und narrative Strategien, um den Ausgang vergangener Ereignisse in der Erzählung als noch offen zu markieren. Christopher Pelling behandelt in einer Art präludierendem Kapitel, das in gewisser Weise neben der konzisen Einleitung des Herausgebers steht, Beispiele aus Herodot, Polybios und Livius. Detaillierter zeigt sodann Emily Baragwanath, wie Herodot die Entscheidungen von Individuen und Kollektiven in den Perserkriegen als hochgradig strittig und damit offen vorstellt. Indem er hindsight zu vermeiden suchte und dem Interaktionsgeflecht vor Knotenpunktereignissen mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Ereignis selbst (so bei der Schlacht von Marathon), steigerte er nicht nur die Dramatik der Schilderung, sondern warnte seine Zuhörer auch vor übergroßer Selbstgewissheit. Zugleich eröffnete er dem menschlichen Handeln auch in Zukunft Räume: Verantwortliche haben eine Wahl, und darauf hinzuweisen ist sinnvoller, als "objektive" Faktoren (Truppenzahl, Kampfkraft usw.) oder gar ideologische Erklärungen (z.B. die Überlegenheit griechischer Freiheit) ins Feld zu führen. Diese Historie ist daher antitriumphalistisch und im humanen Sinn zugleich optimistisch. Roger Brock untersucht Thukydides' Darstellung der Sizilienexpedition Athens, die keineswegs so vermessen und zum Scheitern verurteilt war, wie es nachträgliche Klugheit gerne wollte. Ganz entgehen konnte der vom Ende her sein Narrativ konstruierende Historiograph der hindsight-Gefahr freilich nicht, wie Lisa Irne Hau zeigt, ebensowenig wie Xenophon. Interessant ist die Beobachtung, dass mit wachsender zeitlicher Distanz auch innerhalb eines und desselben Werkes der historische Prozess immer unvermeidlicher erscheinen kann; das ist an Thukydides' Skizzen der griechischen Frühzeit und der Pentekontaetie im ersten Buch gut zu studieren. Polybios schließlich brachte das Kunststück fertig, in der Gesamtauffassung Roms Aufstieg zu Weltmacht unwiderstehlich erscheinen zu lassen, gleichwohl in zahlreichen Ereignisschilderungen einen knappen, durchaus unverhersehbaren Ausgang zur Geltung zu bringen (Felix K. Maier).
Vier weitere Aufsätze konzentrieren sich eher auf die Ereigniskomplexe selbst. Gegen die antike wie moderne Neigung, die immerhin gut eine Generation währende spartanische Hegemonie über Hellas als von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sehen, wendet sich Helen Roche. Erst aus der Rückschau erscheint auch das Projekt einiger Diadochen, das Alexanderreich als Einheit zusammenzuhalten, abwegiger als für die Zeitgenossen (Alexander Meeus). Der Herausgeber zeigt, wie die Menschen in der Zeit des Zweiten Triumvirats aufgrund von Oktavians militärischen Misserfolgen und der offenkundigen Tatsache, dass er kein zweiter Caesar war, einen Sieg von Antonius und Kleopatra zeitweise sogar für wahrscheinlich halten konnten. Katherine Low schließlich nimmt den "letzten Kampf der römischen Republik" (Th. Mommsen), also die angeblichen Bestrebungen, nach Caligulas Tod die Republik wiederherzustellen, wohl ernster, als sie es verdienen. [2]
Nicht alle Autoren widerstehen der Versuchung, über ihre meist überzeugenden Rückübersetzungen von einsträngigen Handlungsketten in offene Gemengelagen von Möglichkeiten hinaus auch über die Folgen eines damals plausiblen anderen Ausgangs nachzudenken (Sieg der Athener in Sizilien; Niederlage Oktavians und Agrippas bei Actium). Doch das berührt die Substanz des höchst lesenswerten und zu weiteren Forschung ermunternden Bandes nicht. [3]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Arnd Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie, Frankfurt/M. 2005 (dazu Rez., http://www.sehepunkte.de/2005/11/8402.html); Peter Vogt: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011.
[2] S. zuletzt Frank Bernstein: Von Caligula zu Claudius: der Senat und das Phantom der Freiheit, in: HZ 285, 2007, 1-18 (nicht bei Low).
[3] Hier nur zu nennen ist ein thematisch ähnlicher, aber nicht so breit angelegter und bislang wenig beachteter Band: Kai Brodersen (Hg.): Vincere Scis, Victoria Uti Nescis. Aspekte der Rückschauverzerrung in der Alten Geschichte (Antike Kultur und Geschichte; 11), Münster 2008; dazu Rez., http://blogs.faz.net/antike/2009/07/06/von-der-beschraenktheit-nachtraeglichen-besserwissens-73/.
Uwe Walter