Matthias Krüger: Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850-1890 (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 135), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2007, 400 S., ISBN 978-3-422-06636-6, EUR 68,00
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Nicht nur dass die "Querelle des Poussinistes et Rubenistes" im 19. Jahrhundert wieder auflebt und dass bereits im späten 18. Jahrhundert verstärkt eine Aufwertung der Farbe gegenüber der Linie sich zeigte, es ist jetzt mehr und mehr das Pinselwerk und der Farbauftrag, ("touche"), dem Aufmerksamkeit zuteil wird. Während es ein reichhaltiges Repertoire an Literatur über Farbe gibt, von Hans Sedlmayr, Ernst Strauß, Wolfgang Schöne über Max Imdahl, um nur einige der wichtigsten Autoren zu nennen, war bis vor nicht allzu langer Zeit die Auswahl die materialtechnische Ausführung betreffend, sehr spärlich gesät.
Frankreich im 19. Jahrhundert, insbesondere deren zweite Hälfte unterliegt enormen Wandlungen, sowohl im politischen, im sozial gesellschaftlichen Bereich als auch in der Medien- und Presselandschaft. Das Bild einer neuen Gesellschaftslehre entsteht, welche die Harmonie zwischen den verschiedenen Tätigkeitsbereichen der Menschen herstellt. Das Kunstschaffen ist von -ismen geprägt. Kunstkritik und Kunsttheorie stehen im Spannungsfeld von Literatur, Journalismus und den szientifischen Elementen.
Die vorliegende Publikation "Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850 - 1890" von Matthias Krüger, eine mit dem Förderpreis der Hamburger Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften ausgezeichnete Dissertation, hat es also mit einem ebenso interessanten wie auch vielschichtigem Thema zu tun.
Bereits im einführenden Kapitel, das den Namen zu Recht trägt, kann der Leser erahnen, welch im wahrsten Sinne des Wortes komplexes Sujet anzutreffen sein wird, wenn es um die Thematisierung des Farbauftrages und der Maltechnik geht, wenn, wie es der Autor nennt, "Glattmalern ihre pastosen Gegenspieler" (26) gegenübergestellt werden.
Die explizite Intention des Verfassers, die Signifikanz des Reliefs der Farbe in fünf verschiedenen Kontexten zu erörtern, reflektiert sich direkt in der Gliederung: 1. Idealismus versus Naturalismus und deren kunsttheoretische Auseinandersetzung, 2. die soziale Konnotation, 3. der physiologisch anthropologische Aspekt, 4. der Kontext von Industrialisierung und Handwerk und 5. der Paragone Fotografie und Malerei. Diese auf pluraler Ebene von Fragestellungen statt singulär auf der Ebene des formalen Erscheinungsbildes vollzogene Analyse der Maltechnik des pastosen Farbauftrages korrespondiert so mit dem Zeitmosaik von Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die Kernaussage des ersten Kapitels, so auch der Verfasser selbst resümierend, ist folgende: Das Gemälde in der idealistischen Theorie ist allein visuell und primär über den Geist zu apperzipieren, während das Gemälde in der positivistisch realistischen Theorie über die Visualität hinausgeht und eine körperliche Erfahrung erreicht. Der Verfasser belegt dies mit dem medizinischen Terminus "palpabel". Dem das 19. Jahrhundert prägende philosophisch ästhetischen Begriffspaar wird die Zeichnung ("dessin") und die verschliffene Maltechnik ("fini") einerseits und das Pastose andererseits eindeutig zugewiesen. Der Autor bedient sich dabei der Terminologie der Gastronomie, nicht unüblich in den kunstkritischen Schriften des 19. Jahrhunderts, dennoch entsteht leicht der Eindruck, dass dadurch viele der interessanten und essenziellen Aussagen an Wert verlieren könnten.
"Soziale Kodierung des Pinsels", die "touche" als soziale Programmatik oder aber generell gesprochen: Glattmalerei und pastose Malerei als Entsprechungen der Gesellschaftsschichten, was anhand von Analysen der Porträtmalerei konstatiert wird, sind die Ergebnisse des zweiten Kapitels. So wird unter anderem van Goghs Bauernmalerei als Gegenentwurf zur akademischen Malerei dargestellt. Stadt und Land finden sich in der korrespondierenden Analogie von Glattmalerei und pastosem Farbauftrag wieder.
Das dritte Kapitel bildet zweifelsohne sowohl qualitativ als auch quantitativ neben dem letzten Kapitel den Höhepunkt der Publikation. So mag es nicht verwundern, wenn die hier vorliegenden Ergebnisse in einem separaten Aufsatz eines zeitgleichen Bandes publiziert werden. [1] Krüger präsentiert ausführlich eine physiologisch orientierte Kunstkritik unter besonderer Berücksichtigung des Temperamentbegriffes, dessen verschiedene Positionen beleuchtet werden (vgl. 140ff.), unter anderem ob Temperament eine "angeborene Gabe" oder "erworbene Qualität" darstellt, was die Frage nach akademischer oder anti-akademischer Konnotation aufwirft (172; bes. 168). Dass pastoser Auftrag mit "leibhafter Präsenz" (118) gleichgesetzt und dies als geläufige Formulierung in jener Zeit betrachtet wird, zeigt Matthias Krüger sowohl an Exponaten als auch anhand von Quellenmaterial. Die Körper-Seele Dualismusproblematik, "Substanzlose Körperdarstellung" (129) versus realen Körper, "Fleischmaler", die Theorie der "nervlichen Degeneration" als literarisches Motiv einerseits und als bestimmtes Phänomen der zeitgenössischen Malerei andererseits gehören zu den dominierenden Themen. Trotz Verteidigung des Verfassers seinerseits ob des Gliederungsaufbaues im ersten und dritten Kapitel (130) sei dennoch die Frage gestattet, warum die Auseinandersetzung von Idealismus versus Realismus in Kapitel eins und drei separiert erfolgt.
Durch die Konfrontation mit der Fotografie wird der hohe Bedeutungsgrad des Farbauftrages evident, was zu grundlegenden Veränderungen des Kunstdiskurses in der Folgezeit führen wird. Das fünfte Kapitel thematisiert mehr denn je, wie sehr die Frage nach der Materialität bis in die Grundfesten der Bildanschauung, bis hin zu Albertis Definition des Gemäldes reicht und der Diskurs an der Schwelle einer neuen Epoche steht. Die Erkenntnis, dass Salonmaler sich nicht nur des "fini", sondern auch der pastosen Maltechnik bedienten, dürfte die restlichen Vorurteile, wenn sie denn noch existent sein sollten, über die Salonmalerei abgebaut haben. Wenn Krüger das fünfte Kapitel umso stärker in den Fokus seiner Überlegungen rückt, zu Lasten eines modest ausgefallenen vierten Kapitels, das die Relation Handwerk - Kunst, also jener traditionelle Paragone-Aspekt, behandelt, dann ist sozusagen durch den neuen Paragone eine klare zukunftsweisende Richtungsänderung bereits gewiesen. Dazu liefert vorliegendes Buch einen beachtenswerten Beitrag.
Die Gewichtung in der Bearbeitung der Aspekte manifestiert eine neue Stufe im Diskurs der Farbe und deren Materialität. Nicht unwichtig, dass dies auf der Basis von Quellen erfolgt, die größtenteils aus Salonberichten rekrutieren, also einer Institution des 19. Jahrhunderts, die vor nicht allzu langer Zeit noch mit dem rigiden Etikett des Konservativen und mit vielen Vorurteilen behaftet war. [2] Eine wichtige Rolle spielt aber auch die Autorenauswahl: Charles Blanc und Emile Zola als kontrastierende Eckpfeiler und Hauptvertreter zweier Richtungen decken neben Paul Mantz, Théophile Thoré, Edmond About, Théophile Gautier, die Gebrüder Goncourt, um die bedeutendsten zu nennen, ein breit gefächertes sowie repräsentatives Spektrum an kunstkritischen Positionen ab.
Das resümierende Schlusskapitel erweist sich als wohltuend, gleich einer Katharsis, ob der Dichte der Darstellung, die zuweilen dazu verleitet, manch interessante und aufschlussreiche Erkenntnis zu übersehen. Nicht immer glücklich gewählte Überschriften (als Beispiel sei "peinture couillarde" [178] genannt), die in Originalsprache belassenen Zitate (niederländische mit deutscher Übersetzung) sowie mehrfach Rückgriffe auf bereits Erwähntes können zu Stolpersteine für die Lesbarkeit mutieren.
Die immer virulente Frage der Farbe und des Farbauftrags bricht sich hier in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise Bahn. Diesem Sujet sich in einer breit angelegten Perspektive zu widmen, ist das hohe Verdienst vorliegender Publikation. Ihr gebührt zweifelsohne ein eminenter Platz in der Forschungsliteratur. Mit dem fast zeitgleich erschienenen Band "Weder Haut noch Fleisch" [3] bildet sie ein anregendes Duett, unterschiedliche Maltechniken zur Erzeugung von Körpern und Oberflächen über mehrere Jahrhunderte hinweg zu analysieren.
Und dennoch stellt sich am Schluss die Frage nach einem möglichen politisch motivierten Farbauftrag in diesem so bewegten Zeitraum von 1850 bis 1890, gerade weil Charles Blanc sich aufgrund seines eigenen Werdeganges als prädestiniert erweisen würde, eventuelle Fragen nach einer sozial politischen motivierten "touche" zu beleuchten.
Anmerkungen:
[1] Daniela Bohde / Mechthild Fend (Hgg.): Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte, Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 3, Frankfurt 2007, 159-180.
[2] Andrée Sfeir-Semmler: Die Maler am Pariser Salon 1791-1880, Frankfurt/New York/Paris 1992, ist die erste groß angelegte und bis heute umfangreichste Untersuchung des französischen Salons.
[3] Daniela Bohde / Mechthild Fend (Hgg.): Weder Haut noch Fleisch, vgl. bes. Mechthild Fend: "Die Substanz der Oberfläche. Repräsentationen von Haut in französischen Malereitraktaten des 18. und 19. Jahrhunderts", 87ff.
Kristiane Pietsch