Sabine Bode: Die deutsche Krankheit - German Angst, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, 287 S., ISBN 978-3-608-94425-9, EUR 19,50
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Die gesellschaftliche Wahrnehmung von realen oder vermeintlichen Bedrohungen stellt einen vernachlässigten Bereich der deutschen Zeitgeschichtsschreibung dar. Während für das ausgehende Mittelalter und die Frühe Neuzeit einschlägige Abhandlungen über die sozialpsychologische Dimension der Basisemotion Angst vorliegen, gibt es für die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts keine vergleichbaren Untersuchungen. Dabei verweist gerade das für beide deutsche Nachkriegsgesellschaften konstitutive Sicherheitsbedürfnis auf die Virulenz von Bedrohungsgefühlen, die im "doppelten Katastrophenschock" (Peter Graf Kielmansegg) der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrieges ihre historischen Bezugspunkte besaßen. Eine Geschichte der Angst könnte somit einen Schlüssel liefern, den "Erwartungshorizont" der Deutschen zu ihrem "Erfahrungsraum" (Reinhart Koselleck) in Beziehung zu setzen und dadurch die katastrophale erste Jahrhunderthälfte mit der Erfolgsgeschichte der Jahre nach 1949 zu verbinden.
Die Arbeit der Journalistin Sabine Bode geht dieser spannenden Frage nach, auch wenn ihr eigenes Interesse weniger historisch als gegenwartsorientiert ist. "Was lähmt die Deutschen?", fragt Bode und findet die Antwort in den "lang[en] [...] Schatten" des Zweiten Weltkrieges (15, 25). Der Reformstau der Bundesrepublik im frühen 21. Jahrhundert sei - so die These - auf die unverarbeiteten Traumata derjenigen Generation zurückzuführen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt hat und Anfang der Achtzigerjahre in die Schlüsselstellungen der westdeutschen Gesellschaft aufgerückt war.
Der Text versteht sich als Einladung zum Gespräch, und im Anteil nehmenden Erzählen, im gegenseitigen Zuhören und im Zulassen von Ambivalenzen sieht Bode auch den Schlüssel zur "Heilung" des nationalen Kollektivs von der "deutschen Krankheit". Diesem, der Psychotherapie entlehnten Ansatz entspricht der Aufbau des Buches. In zehn lose gegliederten Kapiteln machen sich ehemalige Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im Beisein der Verfasserin Gedanken zum Zusammenhang zwischen "German Angst" und den Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges. Daneben kommen Psychotherapeuten ausführlich zu Wort. Eingewoben in diese Struktur wird die Spurensuche der Verfasserin nach prägenden Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit und Jugend in der Bundesrepublik der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Die meisten Gesprächspartner entstammen der Generation der zwischen 1930 und 1945 geborenen "Kriegskinder", so etwa der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (geb. 1930), der frühere Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank Hilmar Kopper (geb. 1935) oder der Historiker Jürgen Reulecke (geb. 1940).
Trotz der Vielzahl durchaus unterschiedlicher Einschätzungen, die in dem Text geäußert werden, strukturiert Bode das Interviewmaterial im Sinne ihrer Ausgangsthese. Leitgedanke bildet die Metapher vom "vergifteten Boden" (209), der es der Generation der zwischen 1930 und 1945 Geborenen unmöglich gemacht habe, die Verlust- und Gewalterfahrungen des Krieges zu verarbeiten. An die Stelle versäumter Trauer sei Angst getreten, die sich in einem überzogenen Sicherheitsbedürfnis, emotionalen Bindungsstörungen und einer Atmosphäre allgemeinen Misstrauens Ausdruck verschafft habe. Führt die Verfasserin diese generationsspezifische "Unlebendigkeit" (176) zunächst auf die Sozialisation durch "gebrochene" Eltern zurück (167), die trotz oder gerade wegen der Erschütterung ihres eigenen Wertesystems die "schwarze Pädagogik" (178) des Nationalsozialismus auch in der Nachkriegszeit noch praktizierten, so geraten später die Nachgeborenen in die Kritik. Jetzt erscheinen nicht mehr Krieg und Nationalsozialismus als "Vergifter", sondern die Vergangenheitsbewältigung der alten Bundesrepublik, die "Kulturleistungen, auf die üblicherweise jedes Volk stolz ist", verworfen habe, "weil man darin die Wurzeln des Zivilisationsbruchs" vermutet habe (266). "Es ist an der Zeit, unsere Erinnerungskultur zu überdenken", folgert Bode und referiert mit Sympathie ein erzkonservatives Leitbild: Familie, Gott und Nation seien "Ressourcen", die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften in nur begrenztem Umfang zur Verfügung gestanden hätten. Es gelte, "vergessene Traditionen" wieder aufzunehmen, um ein "verunsichertes Kollektiv [...] zu unterstützen", wie die Verfasserin in ihrem Schlusswort fordert (277).
Mit dem Plädoyer für eine neue Erinnerungskultur, die an die Stelle der "Beschuldigungsforschung" (219) "Trauer um die Toten [und] Empathie mit den Opfern" (260) setzen möchte, reiht sich das Buch ein in eine Reihe äußerst erfolgreicher Veröffentlichungen der letzten Jahre, die den Zweiten Weltkrieg in seiner "Leideform" zu begreifen suchen. [1] Diese Literatur entlehnt ihr analytisches Instrumentarium der Psychoanalyse und findet im Begriff des Traumas den Schlüssel, um der Frage nach historischen Verantwortlichkeiten auszuweichen und die Langzeitfolgen des Krieges für die deutsche Bevölkerung in den Blick zu nehmen. Dem Bedürfnis nach Nivellierung der Täter-Opfer-Dichotomie korrespondiert die Entdeckung der Generation der "Kriegskinder", welche den Zweiten Weltkrieg weniger als Handelnde denn als Erleidende erlebt hat.
Ambivalenz ist einer der zentralen Begriffe des Textes. Ambivalent war auch der Eindruck, der sich dem Rezensenten beim Lesen des Buches aufdrängte. Zweifellos ist der Versuch zu begrüßen, den psychischen Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges auf die Spur zu kommen. Einige Interviewpartner wie auch die Verfasserin selbst entwerfen ein eindrucksvolles Bild vom Aufwachsen in einer deformierten Gesellschaft, in der sich kriegsversehrte Eltern mit Einschüchterungen und Gewalt gegen den gesellschaftlichen Wandel stemmten, der ihnen in Form ihrer Kinder entgegentrat. Trotzdem kann das hier gezeichnete Psychogramm der Generation der Kriegskinder nicht überzeugen. Wie die zeitgeschichtliche Forschung herausgearbeitet hat, kommt gerade den Kernkohorten dieser Generation eine herausragende Rolle in den "Wandlungsprozesse[n]" der (west)deutschen Gesellschaft zu. Ulrich Herbert charakterisiert die Jahrgänge von 1925 bis 1935 als "einflussreichste politische Generation des zwanzigsten Jahrhunderts", die den Grund für die "innere Reform und Liberalisierung" der Bundesrepublik gelegt habe. [2] Darüber hinaus steht zu bezweifeln, ob die deutsche Gesellschaft wirklich in dem hohen Maße reformunfähig ist, wie dies von der Verfasserin zwar behauptet, aber nirgendwo schlüssig belegt wird - insgesamt also eine verpasste Chance, die Historisierung von Emotionen für die Zeitgeschichte nach 1945 fruchtbar zu machen.
Anmerkungen:
[1] Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, München 2002, 543; Günter Grass: Im Krebsgang: Eine Novelle, Göttingen 2002; Hilke Lorenz: Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation, München 2003; Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2004.
[2] Ulrich Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002; ders.: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke et al. (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, 95-114, hier: 108.
Jörg Arnold