Rezension über:

Bill Niven (ed.): Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006, ix + 292 S., ISBN 978-1-4039-9043-3, GBP 18,99
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Rezension von:
Jörg Arnold
University of Southampton
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Arnold: Rezension von: Bill Niven (ed.): Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/12846.html


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Bill Niven (ed.): Germans as Victims

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Die Fragen sind so naheliegend wie schwierig: Warum hat das Narrativ von den Deutschen als Opfern jetzt, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, an Bedeutung gewonnen? Handelt es sich dabei um ein neues Phänomen, gar einen Tabubruch, oder lassen sich Kontinuitätslinien bis in die Nachkriegszeit zurückverfolgen? Und schließlich: Was bedeutet die Thematisierung deutschen Leids für die Erinnerung an die Opfer der Deutschen?

Der von Bill Niven herausgegebene Sammelband nimmt die Konjunktur deutscher Opfererzählungen über den Zweiten Weltkrieg in den Blick. In zwölf Einzelbeiträgen, allesamt aus der Feder von Forscherinnen und Forschern englischsprachiger Hochschulen, wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln nach den Ursachen für den "Gezeitenwechsel" (Norbert Frei) in der deutschen Erinnerungskultur der Gegenwart gefragt, eine Historisierung der einzelnen Opfernarrative vorgenommen und deren vergangenheitspolitische Bedeutung bestimmt. [1]

In seiner gelungenen Einleitung legt der Herausgeber einige Antworten auf die oben skizzierten Fragen nahe. Niven verortet die Gründe für den Erinnerungsboom im Wandel der politischen Rahmenbedingungen seit 1989/90, genauer im Ende des Kalten Krieges und der Rückkehr 'heißer' Kriege nach Europa. Daneben verweist er auf den Generationswechsel der späten Neunzigerjahre, in dem die 'Flakhelfer' der Regierung Kohl von den '68ern' des Kabinetts Schröder abgelöst wurden.

Niven argumentiert, dass die Vereinigung der beiden deutschen Staaten die historische Chance geboten habe, die NS-Vergangenheit aus dem starren Korsett "gegenseitiger Selbstrechtfertigung und Schuldzuweisung" zu lösen, das für den Kalten Krieg charakteristisch gewesen sei (1). Zu einer solchen 'Entpolitisierung' kam es jedoch nicht, weil die Regierung Kohl in der gemeinsamen Opfererfahrung der Kriegsendphase einen wichtigen Baustein für eine gesamtdeutsche Identität erblickte (5). Der staatlichen "Erinnerungspolitik der nationalen Versöhnung" stellt Niven die öffentliche Erinnerung der Neunzigerjahre gegenüber, in der die deutsche Partizipation am NS-Genozid intensiver thematisiert wurde als jemals zuvor (6).

Mit dem Regierungsantritt der '68er' im Jahr 1998 habe sich die Rollenverteilung zwischen Staat und Öffentlichkeit umgekehrt. Während sich die Repräsentanten der Rot-Grünen Koalition in bisweilen aufreizender Lässigkeit zur deutschen Schuld bekannten, rückte die Frage nach den Leiderfahrungen der Deutschen unter dem Signum eines vorgeblichen Tabubruchs ins Zentrum der öffentlichen Diskussion.

Der vom Herausgeber skizzierte Gegenwartsbezug der öffentlichen Erinnerung wird in mehreren der Einzelbeiträge aufgegriffen. Karoline von Oppen und Stefan Wolff arbeiten in ihrem Aufsatz "From the Margins to the Centre?" die große Bedeutung der Balkankriege für den Wandel im öffentlichen Diskurs über Flucht und Zwangsmigration im Zweiten Weltkrieg heraus. Sie zeigen, wie die Berichterstattung über das Kriegselend im zerfallenden Jugoslawien zu einer "Rehabilitierung" der deutschen Vertriebenen führte (202). Im Bewusstsein von weiten Teilen der Öffentlichkeit wurden aus verstockten Revisionisten Opfer ethnischer Säuberungen.

Einem ähnlichem Ansatz folgend analysiert Andreas Huyssen die Rezeption von Jörg Friedrichs Verlusterzählung vom Bombenkrieg im außenpolitischen Zusammenhang des Zweiten Irakkriegs. Erstmals in ihrer Geschichte, so die These, habe die deutsche Friedensbewegung in ihrer Anti-Kriegsagitation auf die kollektive Erinnerung an die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg zurückgegriffen (182). In dieser Analogie erscheinen Briten und Amerikaner als überzeitliche Aggressoren, während deutsche und irakische 'Zivilisten' die Rolle unschuldiger Opfer einnehmen.

Viele Beiträge bemühen sich um den Nachweis, dass die Erzählung von den Deutschen als Opfern eine Geschichte besitzt, die bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurückreicht. Für die Fünfzigerjahre ist dieser Befund schon oft erbracht worden, und diesbezüglich begnügt sich der Band mit dem gekürzten Wiederabdruck eines bereits 2005 erschienen Aufsatzes von Robert G. Moeller. [2] Daran anschließend untersucht Moeller in einer Spezialuntersuchung die apologetischen Tendenzen des westdeutschen Kriegsfilms der Fünfzigerjahre. Für die DDR zeigt Bill Niven, wie das SED-Regime die Erinnerung an die Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg für die ideologische Konfrontation des Kalten Krieges instrumentalisierte.

Weiterführender sind jene Aufsätze, die den Blick über die Gründungsjahre der beiden deutschen Nachfolgestaaten hinaus auch auf das "Rote Jahrzehnt" (Gerd Koenen) der späten Sechziger- und Siebzigerjahre richten. Kam es hier zu einer Verdrängung deutscher Opfererfahrungen, einer "Vertreibung der Vertriebenen" etwa, wie Manfred Kittel gefragt hat? [3]

Ruth Wittlinger greift diese Frage in "Taboo or Tradition?" auf. Sie argumentiert, dass die Sechzigerjahre zwar vordergründig von einer Verschiebung des Vergangenheitsdiskurses weg von den deutschen Opfern hin zu den Opfern der Deutschen gekennzeichnet gewesen seien. Gerade aber die '68er' hätten die Tendenz gehabt, sich zu "neuen Juden" zu stilisieren (69), um ihren 'Widerstand' gegen ein als protofaschistisch wahrgenommenes politisches System zu legitimieren. Wittlinger kommt zu dem Schluss, dass das Narrativ von den deutschen Opfern auch in der Hochphase der Auseinandersetzung mit dem Holocaust niemals vollständig aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurde.

Einen Schritt weiter geht Helmut Schmitz, wenn er argumentiert, dass im Historikerstreit der Achtzigerjahre die zentralen Argumentationsmuster des gegenwärtigen Opferdiskurses vorweggenommen wurden. Bereits Ernst Nolte und Andreas Hillgruber hätten den Versuch unternommen, die zentrale Bedeutung des Judenmords zu relativieren und stattdessen eine "deutsche Perspektive" auf den Zweiten Weltkrieg zu legitimieren (99). Schon damals sei die Forderung nach Empathie mit dem deutschen Kollektiv aufgekommen, die dann in der Walser-Bubis Debatte von 1998 eine zentrale Bedeutung erlangt habe.

Auch Paul Cooke betont in seiner Untersuchung des deutschen Kinos die Kontinuität von Opfer-Imaginationen. Im Filmschaffen des New German Cinema der Siebzigerjahre sei das Opfer-Motiv nicht verschwunden, sondern lediglich re-kontextualisiert worden. Die Protagonisten erschienen als Opfer faschistischer Traditionsüberhänge oder als Opfer US-amerikanischer Aggression.

Dass durchaus nicht alle Opferdiskurse des Kalten Krieges in den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs ihren historischen Bezugspunkt besaßen, zeigt schließlich Pertti Ahonen in seinem gelungen Beitrag über die öffentliche Erinnerung an die Menschen, die an der deutsch-deutschen Grenze eines gewaltsamen Todes starben. In der Bundesrepublik dienten die bei Fluchtversuchen erschossenen DDR-Bürger als Beweis für den 'totalitären' Charakter des SED-Regimes, während in der DDR die ums Leben gekommenen Grenzsoldaten als Opfer westlicher Aggression vereinnahmt wurden.

Welche Folgen die Konjunktur deutscher Opfererzählungen für die Erinnerung an die Opfer der Deutschen habe - diese Frage steht im Zentrum der Beiträge von Andrew H. Beattie, Stuart Taberner und Stefan Berger. Beattie zeigt anhand der beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages zur SED-Diktatur, dass sich im vereinigten Deutschland die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus im Kontext einer Erinnerungskultur vollzieht, in der den Verbrechen des Nationalsozialismus nach wie vor überragende Bedeutung zukommt. Auch Stefan Berger betont in seiner Untersuchung der Historiografie zu Vertreibung und Luftkrieg, dass die Anerkennung der deutschen Schuld und der deutschen Verbrechen nachgerade eine Voraussetzung für die Thematisierung der deutschen Opfer darstelle. Stuart Taberner schließlich beleuchtet die Versuche in der Gegenwartsliteratur, deutsches Leid im Kontext deutscher Schuld zu erzählen.

Mit "Germans as Victims" liegt eine lesenswerte Sammlung vor, die Kontinuität und Wandel im deutschen Erinnerungsdiskurs der Gegenwart in seiner Vielfalt thematisiert und historisiert. Das Urteil der englischsprachigen Beobachter über die Renaissance der deutschen Opfererzählung fällt vorsichtig optimistisch aus: Bei allen besorgniserregenden Tendenzen sei ein Rückfall in die Apologie der Fünfzigerjahre, oder gar in den Revisionismus der Zwischenkriegszeit nicht zu befürchten. Es steht zu hoffen, dass sie damit Recht behalten.


Anmerkungen:

[1] Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2004, 21.

[2] Robert G. Moeller: "Germans as Victims? Thoughts on a Post-Cold War History of World War II's Legacies", in: History and Memory, 17:1/2 (2005), 147-194.

[3] Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982), München 2007.

Jörg Arnold