Paul Kennedy: Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, München: C.H.Beck 2007, 400 S., ISBN 978-3-406-56328-7, EUR 24,90
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Die UNO als Parlament der Menschheit? Ist das nicht ein wenig hoch gegriffen? Paul Kennedy, einer der bekanntesten Historiker der Welt, weiß aber schon, was er meint. Der in Yale lehrende Brite, der früher einer der Spezialisten für britische Außenpolitik und zumal zu den Beziehungen zum Deutschen Reich war, wurde berühmt, als er mit "Aufstieg und Fall der Großen Mächte" (dt. 1989) eine Regelhaftigkeit der Überdehnung von Großmächten aufzeigte, die seinerzeit direkt in den US-Wahlkampf einwirkte. Er legte nach mit "In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert" (dt. 1993), wodurch er scheinbar endgültig den Rahmen historischer Expertise zugunsten von Prognosen verließ, doch blieb auch dieses Buch methodisch informiert und reflektiert auf der Basis moderner internationaler Geschichte. Nunmehr verbindet er eine gründliche historische Analyse der UNO erneut mit einem aktionsanleitenden Ausblick. Das ist kein Wunder, hat Kennedy doch Mitte der 1990er Jahre in einem Team seiner Universität zusammen mit der Ford Foundation auf höchster Ebene Reformvorschläge für die UNO erarbeitet.
Doch was hat es mit dem "Parliament of Men" auf sich? Es ist ein Zitat aus Alfred Tennysons Gedicht "Locksley Hall" von 1837 und gibt so etwas wie eine konkrete Utopie wider, die auch Kennedy nicht in der existierenden UNO verwirklicht sieht. Am ehesten bilde noch die Generalversammlung ein solches Gremium im Ansatz, aber keineswegs in der Realität ab. Und so kommt es, dass der Autor immer mal wieder auf seine Titelmetapher in kritischer, aber auch nach vorn weisender Absicht zurückkommt. Das "Parliament of Men" reflektiert so den Beginn der Präambel der Charta "Wir, die Völker der Vereinten Nationen" und eröffnet einen Sehnsuchtsraum, der im Buch häufiger aufgenommen wird.
Der Autor setzt ein mit dem Staatensystem um 1815, diskutiert die Grenzen und Möglichkeiten des Wiener Systems, behandelt ausführlicher den Ersten Weltkrieg und die daraus gezogene Folgerung eines Völkerbundes. Unter ihm entstanden zwar einige Organisationen des späteren UN-Systems, jedoch konnte er mangels Vollständigkeit und konkreter Politik nie die zentrale Rolle bekommen, die aufgrund des nochmals schrecklicheren Zweiten Weltkrieges die Vereinten Nationen einnehmen sollten. Von vornherein standen sie vor dem Dilemma zwischen Ansprüchen von Völkern und einzelnen Regierungen und dem Fortbestand und damit auch Ansprüchen der Staaten. Genauer: gerade die Großmächte mit Vetorecht (P 5 heißen sie wenig überzeugend auch in der deutschen Übersetzung) legten wert auf ihre dominante Rolle und zumal die USA fürchteten sich vor jedem möglichen und denkbaren Souveränitätsverlust. Dem trägt einerseits Kennedy "realistisch" Rechnung, geißelt jedoch wiederholt die Position der Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat. Die Privilegien dieser Vetomächte seien anachronistisch; aber die Welt sei nun einmal seit jeher von Großmächten bestimmt worden (78). Andererseits gibt er wiederholt zu bedenken, dass ein Prinzip "one state, one vote" angesichts der ungleichen Bevölkerungs- und/oder Wirtschaftskraft gleichfalls keine angemessene Basis für eine solche Weltorganisation sein könne.
Diese Bemerkungen könnten so gelesen werden, als ob Kennedy dauernd normativ raisonniere. Das ist nicht der Fall, er zeigt hier und auch sonst nur Spannungsfelder zwischen unterschiedlichen Normkategorien und historischen Faktoren auf, denen sich die UNO praktisch zu stellen hatte. Im Grunde, so Kennedy, gebe es mehrere Vereinte Nationen. Eine sehr inspirierte Rekapitulation der (auch im Anhang abgedruckten) Charta macht das deutlich. Nur die bekannteste dieses lockeren Netzwerks gruppiere sich um den Sicherheitsrat. Grade um 1960 habe sich um den damaligen Generalsekretär Dag Hammarskjöld ein außergewöhnliches Team gebildet, das etwa die Kongokrise angegangen sei. Und hier sei durchgehend etwas Neues für die Staatengesellschaft entstanden. In dieser und ähnlicher Hinsicht gebe es unbestreitbare Erfolge der UNO, aber auch jeweils klar benannte Defizite.
Auf insgesamt 200 Seiten werden in diesem Kapitel und in den folgenden die wichtigsten Sektoren von UN-Tätigkeit eloquent und informiert im historischen Wandel der letzten 60 Jahre vorgeführt. "Friedenserhaltung" (peacekeeping), das Thema des nächsten Kapitels, komme in der Satzung gar nicht vor, aber auf diesen Sektor habe sich die größte Aufmerksamkeit konzentriert, sie koste auch am meisten Geld. Was während des Kalten Krieges mit manchmal großem Aufwand, aber dennoch nützlich geleistet wurde, mündete in den 1990er Jahren in drei Katastrophen um Somalia, Jugoslawien und Ruanda. Das geschah nicht zuletzt aufgrund des beschränkten Zugriffsrechts auf innere Konflikte und der fehlenden Zustimmung souveräner Staaten. Weder zu große Zaghaftigkeit (Ruanda) noch zu forsches Zugreifen (Somalia) habe zum Ziel geführt.
ECOSOC, die Zusammenfassung aller Wirtschaftsprogramme zwischen Nord und Süd wird in einem weiteren Kapitel abgehandelt und produziere nicht viel Sinnvolles. Kennedy ist sich des Problems einer reinen Aufzählung von Organisation im UN-Abkürzungsjargon bewusst und versucht hier knapp zu bündeln, sich auch von der Tätigkeit von Weltbank und Internationalem Währungsfond, die ja nur lose mit dem UN-System verbunden wurden, kritisch zu distanzieren.
Die "weichen" UN-Missionen von Unicef bis zur Unesco werden in einem weiteren Kapitel bilanziert. Dabei wird klar, dass auch die un- oder vorpolitischen Aktivitäten politische Bedeutung erlangten. Viele der bei Wirtschaft und "weichen" Organisationen genannten Initiativen wurden vom Ostblock sowjetischer und später auch chinesischer Prägung allerdings kaum wahrgenommen oder gar materiell unterstützt. Gerade die Umweltbewegung sei wichtig für die Herausbildung von Zivilgesellschaft gewesen (189), während die Unesco zum Spielball ihr eigentlich gar nicht zugedachter allgemeiner politischer Intervention vielfach aus der Dritten Welt geworden sei - mit den Folgen eines zeitweiligen Boykotts der USA und anderer Staaten. Deutlich arbeitet Kennedy hier die vielfachen Überschneidungen und auch kostspielige Doppel- und Mehrfachkompetenzen heraus, die politisch einer gründlichen Durchforstung bedürften. Das kommt zumal in dem Kapitel "Die Menschenrechte international fördern" in der Ambivalenz von Leistungen und Defiziten zum Ausdruck. Nur summarisch und exemplarisch unter dem "Wir die Völker der Welt" werden einige der ca. 30 000 Nichtregierungsinstitutionen vorgeführt und damit weit über das UN-System hinaus die Transformationen der Welt im Zeichen der Globalisierung erörtert. Diese sei "reich, aber chaotisch und schwer zu strukturieren" (251). Hier gelingen dem Verfasser brillante essayistische Beobachtungen.
Den Schluss bildet eine Bestandsaufnahme der Gegenwart und ein Blick in die Zukunft, in welcher sich die früheren Yale-Gutachten niederschlagen: das Spannungsfeld zwischen Großmächten, Staatenpolitik auf der einen Seite, (zivil)gesellschaftlichen und supranationalen Einrichtungen des UN-Systems wird hier mit einem Blick auf das Realistische und Machbare wiederholt durchschritten. Richtungen deutet Kennedy an, Prognosen vermeidet der Historiker - anders als in früheren Büchern - weitgehend.
Die historische UN-Forschung in Deutschland liegt beklagenswert weit im internationalen Vergleich wie im Hinblick auf andere Disziplinen zurück. Die völkerrechtliche und politikwissenschaftliche Exegese kann hier nur zum Teil Ersatz schaffen. Auch international gibt es über Evan Luards zweibändiges Werk über die UNO 1945-1965[1] hinaus kaum integrierende Studien, die "United Nations intellectual history project series" an der City University of New York dürfte künftig mehr erbringen. [2] Grade in dieser Situation verdient die Übersetzung von Paul Kennedys neuem Werk ins Deutsche Beachtung; er wirft so viele Fragen auf, bündelt eine solche Fülle an Informationen und Perspektiven, dass - bei aller essayistischen Zuspitzung und auch Wiederholung - hiervon starke Impulse ausgehen könnten - oder zumindest doch: sollten.
Anmerkungen:
[1] Evan Luard: A History of the United Nations, 2 Bände, New York/London 1982/89.
[2] Vgl. meinen Literaturbericht: Historische UN-Forschung in Deutschland: Themen, Methoden und Möglichkeiten. In: Manuel Fröhlich (Hg.): UN Studies / VN-Studien. Umrisse eines Lehr- und Forschungsfeldes, erscheint demnächst Baden-Baden: Nomos; sowie Norbert Götz: Sechzig Jahre und kein bisschen weise. Die Vereinten Nationen in der postnationalen Konstellation, in: Neue Politische Literatur 52, 2007, No.1, (37-55).
Jost Dülffer